Reise in die Vergangenheit

Als der Fotograf Christian Schneider vor vierzig Jahren mit der Transsibirischen Eisenbahn durch die Sowjetunion fuhr, erhielt er viel Kritik. Heute werden seine Fotos von der Reise in einer Ausstellung gezeigt. Wir sprachen mit ihm über seine Aufnahmen.

Foto: Christian Schneider

Herr Schneider, wie kam es zu der Reise in die Sowjetunion?

Nachdem ich das Buch „La prose du Transsibérien" („Die Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn und der kleinen Jehanne von Frankreich", auf Deutsch im Lenos-Verlag erschienen, Anm. d. Red.) von Blaise Cendrars gelesen hatte, bekam ich Lust auf eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn. Da meine Mutter ebenfalls Lust dazu hatte, entschieden wir uns für die Reise im Juli 1972. Das war ein heißer Sommer. Ich arbeitete damals in einer Auditfirma, da wurden mir Vorwürfe wegen meines Vorhabens gemacht. Zu der Zeit wurden Reisen in die Sowjetunion negativ angesehen. Deswegen stellte ich die Fotos von der Reise erst 1994 in Genf aus.

Wie lange dauerte Ihre Reise?

Insgesamt dauerte die Reise von Genf nach Moskau bis Chabarowsk 14 Tage, mit Zwischenhalten in Nowosibirsk und Irkutsk. Im Zug verbrachten wir insgesamt sechs Tage.

Kam es zu intensiveren Kontakten mit den Sowjetbürgern?

Ja, in unserer Gruppe waren auch Russen. Ein Schweizer sprach Russisch und so konnten wir uns verständigen. Je weiter wir uns von Moskau entfernten, desto lockerer wurden die Leute. Im Vergleich zur Schweiz fand ich die Menschen in Russland generell herzlicher. Wir waren jung und machten Witze – von Schweizern erwartet man das vielleicht nicht. Als wir uns beispielsweise zum Schlafen ausziehen sollten, machten wir es ganz provokativ, so, als ob wir Striptease machen wollten. Die Russen waren schockiert und verließen sofort das Abteil. (lacht)

Wie erlebten Sie die Fahrt?

Der Zug war ein Erlebnis für mich: altmodisch groß, doch gleichzeitig romantisch. Ansonsten war das eine monotone Reise. Ich saß fast den ganzen Tag am Fenster und sah vor allem Landschaften mit Birken. Aber es war berauschend für mich. Meine Mutter erlebte das Land als arm. (Zeigt auf ein Foto mit einem leerstehenden Kiosk.) Dort hätte man etwas verkaufen können, doch der Kiosk war leer. Oder schauen Sie sich diese Straße inmitten einer Stadt an: kein einziges Auto. Heutzutage sieht es dort sicher ganz anders aus.

Welche Orte beeindruckten Sie besonders?

Irkutsk und den Baikalsee fand ich am schönsten. Der Baikalsee war allerdings zu kalt zum Schwimmen – ich habe nur meine Füße eingetaucht (schmunzelt). Aber meine Mutter und ich haben im Fluss Amur gebadet.

Ihre Fotos erzählen oft eine Geschichte. Auf diesem beispielsweise hält der ältere Junge den jüngeren behutsam in seinen Armen. Erinnern Sie sich, wie Sie dieses und andere Fotos gemacht haben?

Der Ältere beschützte wohl den Jüngeren, weil sie zu nah am Gleis gingen. Für Aufnahmen hatte ich oft nicht viel Zeit. Deshalb ließ ich die Situationen auch offen. Jeder kann sie frei für sich interpretieren. Ich habe das fotografiert, was mir merkwürdig erschien. Hier zum Beispiel (zeigt ein Foto mit einem Denkmal, das einen Mann mit einem Kind in seinen Armen darstellt) sieht man ein großes sowjetisches Denkmal, einen sowjetischen Mythos. Aber die Leute, die um das Denkmal herumstanden, haben es überhaupt nicht beachtet, sondern in völlig andere Richtungen geschaut.

Herr Schneider, vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Ausstellung mit Fotostrecken zweier legendärer Strecken, der „Transsibirischen Eisenbahn“ von Christian Schneider und der Route 66 („Journeying 66“) von Rosemarie Zens, kann man noch bis 2. Mai 2013 im Hotel „Bogota“ in Berlin (Schlüterstraße 45, 10707 Berlin) sehen.


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