Der russische Autorenkosmos in einem Buch

Die Slawistin Johanna Renate Döring hat mit „Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt“ eine russische Literaturgeschichte vorgelegt, die ganz nach Dostojewski versucht, kreative Biografien zu schreiben.

Dass Väterchen Russland über die Sowjetunion bis hin zu Putins autoritärem Regime nie besonders pfleglich, um es einmal euphemistisch auszudrücken, mit seinen Autoren umgegangen ist (Verbannung, Exekution, Psychiatrie und Vertreibung ins Exil), das ist eine Binsenwahrheit – wo doch das geschriebene Wort der Dichter bis in die Zeit der neuen Medien eine fast sakral anmutende Verehrung zuteil wurde. Vom langen und stetigen Kampf der Dichter um ihre eigene poetische Sprache und um die Freiheit des Wortes kann man in der umfangreichen Publikation „Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt“ der Slawistin Döring viel erfahren.

Döring will keine zusammenhängende russische Literaturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte schreiben, sondern orientiert sich an Andrej Bitows „Warum fragen Sie ständig nach meinem Schreiben, nicht nach meinem Leben?“ Es geht ihr nach Dostojewski darum, „die Hauptidee des Gesichts“ erkennbar zu machen, „kreative Biographien“ zu schreiben, die sich „vom Biographismus alter Schule nach dem Muster von ‚l’homme et l’œuvre‘“ unterscheiden.

Naturgemäß beginnt Döring mit Alexander Puschkin, dem bis heute verehrten Vater der russischen Literatur. In einer Zeit, in der die herrschenden Klassen vornehmlich französisch sprachen, war Puschkin sehr an der russischen Volkssprache interessiert. Die Grundlage für diese Begeisterung legte seine Großmutter, neben seiner Kinderfrau. Puschkin

entwickelte in seinen Werken eine „minimalistische Ästhetik“, die bei Tschechow beispielsweise ihren Widerhall findet: „Genauigkeit und Kürze“. Russlands Literaturgeschichte war immer von Schismen geprägt, die erste finden wir bei Puschkin und Gogol. Letzterer stammte aus dem Kaukasus, seine Prosa ist geprägt von einem „überbordenden Erzählkosmos, phantastisch überzeichnet, stilistisch verzerrt, aus folkloristischen Überlieferungen  mit marionettenhaften Figuren, die den Einfluss des ukrainischen Puppentheaters (…) aufweisen.“ Gogols anarchische Schaffenskraft versagte in den letzten zehn Jahren. Während Puschkin ein Kind der europäischen Aufklärung war, versank Gogol in religiösem Wahn und hungerte sich zu Tode.

Schismen finden sich denn auch in der Aufspaltung von „Westlern“ und „Slawophilen“ und auch denen, die im Land blieben oder ins Exil gingen. In Dörings Auswahl dürfen natürlich die Giganten Lermontow, mit dem das ‚Goldene Zeitalter‘ endete und der den „überflüssigen Menschen“ in die russische Literatur einführte, Dostojewski und Tolstoi, Herzen und Turgenjew, Gorki und Tschechow nicht fehlen. Aus dem reichen Autorenpool des zwanzigsten Jahrhunderts wählt sie Bunin, Achmatowa,

Pasternak, Zwetajewa, Nabokov, Solschenizyn, Bitow und Brodsky aus und endet mit dem 1955 geborenen Vladimir Sorokin, der in seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken gerne Idyllen zertrümmert und die russische Literaturtradition, kennend wie kaum ein anderer, als Steinbruch seiner oft musikalisch durchkomponierten Gewaltorgien nutzt und transformiert: Subversion durch Affirmation. Sorokin sah sich wiederholt Angriffen der Putinjugend ausgesetzt – vom öffentlichem Entsorgen seiner Bücher in einer Riesentoilettenschüssel bis hin zum Versuch, vor seiner Tür eine Gefängnistür zu installieren.

Auch wenn Döring im Vorwort betont, es ließe sich zwar „ein Netz literarischer und existenzieller Motive spannen“, sie sich aber auf den einzelnen Autor mit seiner Lebensgeschichte und seinem Weltentwurf konzentriere – ganz verzichtet sie zum Vorteil des Lesers darauf nicht. Wie bei jeder Auswahl vermisst der Leser sicherlich den einen oder anderen Autor. Wenn ich drei Wünsche frei hätte, dann wären es

Gontscharow, Babel und Charms. Andere werden diesen oder jenen vermissen. Das ist als Kompliment zu verstehen, denn in ein misslungenes Buch würde man nicht Lieblingsautoren hineinwünschen. Döring pflegt einen schönen, klaren Stil, für einen Wissenschaftler nicht selbstverständlich. Dabei weiß sie Lebensgeschichten plastisch zu erzählen, ihre fachliche Kompetenz in der Bewertung der Werke ist überzeugend. Leser und Leserin werden wie in einem Sog in das Buch hineingezogen und lassen sich gerne von Porträt zu Porträt treiben – in dieser Literaturgeschichte der anderen Art.


Johanna Renate Döring: Von Puschkin bis Sorokin. Zwanzig russische Autoren im Porträt. Wien, Köln, Weimar, 2013, Böhlau Verlag, 360 Seiten, geb., 24,90 €

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