Russische Experimentalmusik kehrt aus deutschem Exil zurück

Der Komponist Sergej Newskij. Foto: ITAR-TASS

Der Komponist Sergej Newskij. Foto: ITAR-TASS

In den letzten 20 Jahren erlebte die russische Avantgarde ihre Blüte nur im westlichen Exil. Doch durch das Internet, den Einblick in das westliche Leben und die Entstehung einer kreativen Klasse in der Gesellschaft bildet sich nun auch in Russland ein seriöses Publikum für diese Musik.

Seit fast 20 Jahren findet in Moskau das Festival Woswraschtschenie (zu Deutsch: „Rückkehr") statt, das von den Musikern Roman Minz und Dmitri Bulgakow organisiert wird. Die Organisatoren zogen, als sie noch Studierende waren, nach Großbritannien, um dort Karriere zu machen. Ihre Ferien verbrachten die jungen Musiker und ihre Studienkollegen jedoch immer in ihrer Heimat Moskau, wo nun auch ihr Festival stattfindet. Zu dessen Programm zählen nicht nur Klassiker, sondern auch Stücke, welche die jungen Avantgardisten speziell für das Festival geschrieben haben.

Die letzten Festivals haben gleich mit drei fest im russischen Denken verankerten Stereotypen aufgeräumt. Erstens, die moderne avantgardistische Musik interessiert in Russland niemanden. Zweitens, jedes vielversprechende Musiktalent muss, so schnell es geht, in den Westen emigrieren, um nicht bald als Musiker in einem Restaurant zu enden. Und drittens, avantgardistische Komponisten aus Russland (über)-leben nur in der Bundesrepublik Deutschland.

Langsam entsteht nun auch in Russland eine Nachfrage nach Komponisten, die vor 15 bis 20 Jahren noch gezwungen waren, ins Ausland zu emigrieren – vorwiegend nach Deutschland. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es in Russland keine Nachfrage nach ihrer Musik und kein entsprechendes Publikum gab. Zu den bekanntesten russischen Musikern, die sich im Westen einen Namen machen konnten, zählen in erster Linie Sergej Newskij, Boris Filanowskij und Dmitri Kurljandskij. Alle drei sind etwa 40 Jahre alt, gehören zum Künstlerkollektiv „Structural Resistance Group" und haben im Westen studiert, gelebt und gearbeitet.

 

Ein wahnsinnig schwieriger Charismatiker

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten dieses Kollektivs ist Sergej Newskij (geboren 1971). Newskij studierte zunächst Musiktheorie und Musikgeschichte am Akademischen Musikkolleg des Moskauer Staatlichen Tschaikowskij-Konservatoriums. Später absolvierte er ein Kompositionsstudium an der Universität der Künste in Berlin. Newskij schreibt äußerst originelle, für die Zuhörer beinahe „unangenehme" Stücke, die zudem sehr schwierig zu spielen sind. Eine besondere Herausforderung sind dabei jene Stücke, die auf Flöte oder Klarinette gespielt werden sowie Free-Jazz-Kompositionen mit einer erweiterten Spieltechnik auf Holzblasinstrumenten.

Newskij hat das Aussehen eines Dreißigjährigen, trägt sein Stirnhaar wie der Sänger einer britischen Pop-Gruppe und gibt irrsinnig interessante Interviews – er ist wahrlich ein Charismatiker. Er komponiert sowohl für das Kino als auch für das Theater. Manche sind der Ansicht, dass er nicht wirklich über ein Talent verfüge, sondern einfach nur ein sehr feines

Gespür für den Markt habe. Doch selbst wenn das zuträfe, wäre es für einen Avantgarde-Komponisten sehr außergewöhnlich, im Trend zu sein. So erzählte einmal Newskij in einem Interview über die bereits stattgefundenen Veränderungen: „In den 1990er-Jahren gab es einen Bruch, der damit zusammenhing, dass sowohl die Avantgarde-Maîtres wie etwa Edisson Denissow, Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina als auch ihre Studenten emigrierten. Eine Rückkehr beziehungsweise ein erneuter Aufschwung der Musik begann erst wieder in den 2000er-Jahren und war durch den Fortschritt des Internets bedingt. Es tauchte – praktisch aus dem Nichts – eine ganz neue Generation von Zuhörern auf, die einerseits das Bedürfnis nach einer modernen Musik hatten und andererseits nach neuen Musikern, welche diese Musik machen wollten."

 

„Komponisten schießen wie Pilze aus dem Boden"

„Die Musiker wandern nicht mehr aus, im Gegenteil, sie kommen wieder zurück", betont die Musikkritikerin Ekaterina Birjukowa, die sich besonders für Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise Minimalismus, interessiert. „Meiner Meinung nach gehört das Auswandern von Musikern der Vergangenheit an", erklärt Birjukowa. „Denn hinsichtlich der geografischen Grenzen steht es mit den Musikern bei Weitem nicht mehr so schlecht wie mit anderen kunstschaffenden Berufen", sagt die Expertin und erklärt: „Bei den Musikern ist es so: Dort, wo sie ihre Aufträge erhalten, dort arbeiten sie auch, und zu Hause sind sie dort, wo sie gerade ihre Koffer stehen haben beziehungsweise wo ihre Kinder zur Schule gehen. Musiker erhalten – und das ist nur verständlich – mehr Aufträge im Westen, da dort die Gesellschaft besser auf neue Musikrichtungen eingestellt ist. Doch auch bei uns gibt es mittlerweile viele Musikfestivals und Weltpremieren."

Birjukowa meint, das Internet überwinde alle Grenzen: „Komponisten schießen wie Pilze aus dem Boden, wobei sie ihre neuesten Informationen aus dem Internet beziehen – da gibt es keinen eisernen Vorhang, der sie behindert." Die musikalische Vielfalt sei enorm, sagt sie. „Gestern, als ich aus dem Rachmaninow-Saal des Moskauer Konservatoriums hinausging, habe ich eine Handvoll junger Musiker gesehen – inzwischen sind Musiker übrigens sowohl Komponisten als auch Interpreten –, wie sie auf der Gitarre zuerst etwas Avantgardistisches spielten und später George

Gershwin sangen." Vieles hänge allein davon ab, ob die Sänger charismatisch sind und sich für diese Musikrichtungen auch begeistern. Genau solche Künstler gebe es bereits, sagt Birjukowa, wie beispielsweise das Moskauer Ensemble für zeitgenössische Musik, „das einfach nur spitze ist", der Flötenspieler Iwan Buschuew oder der „westliche" Dirigent Wladimir Jurowskij.

Der stets beschäftigte Maître Jurij Baschmet hat einen Wettbewerb für junge Komponisten initiiert. Der Künstler und Dirigent erzählt: „Ich habe meinen Freund, den Komponisten Aleksandr Tschaikowskij (Professor am Moskauer Konservatorium – Anm. d. Red.), gebeten, einen Wettbewerb für das beste Kompositionsstück zu veranstalten – um zu sehen, was die Jugend, also die Studenten, gerade so spielen." Denn gerade die Komponisten seien es, die den Sängern voraus sind, da die Sänger bestenfalls nur Co-Autoren sein könnten. Die Komponisten hingegen müssten Lieder von Grund auf schreiben, erklärt Baschmet. „So haben wir insgesamt neun Stücke ausgewählt, wobei wir eines davon unter meiner Leitung im großen Saal des Konservatoriums aufführen werden. Dies wird für den Komponisten des Stücks ein großer Schritt auf seiner Karriereleiter sein."

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