Frontbriefe aus dem Ersten Weltkrieg: Schafft den Krieg aus der Welt!

Foto: RIA Novosti

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100 Jahre sind seit Beginn des Ersten Weltkriegs vergangen. Soldaten schrieben damals Briefe von der Front, in denen sie von der Grausamkeit, den Schrecken und dem Leid des Kriegs berichteten.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde in Russland die „Einstweilige Bestimmung über die Militärzensur" wirksam, die es erlaubte, jeden Brief von der Front durchzusehen und zu konfiszieren, wenn geheime Informationen darin enthalten waren. Dieser Verordnung ist zu verdanken, dass viele der Briefe bis in unsere Tage erhalten sind. Heute befinden sie sich in Archiven, insbesondere im Russischen Staatlichen Militärhistorischen Archiv, wo mehrere Bände an Frontbriefen aufbewahrt werden.

In der Anfangsetappe des Krieges waren viele voller Optimismus. „Natürlich ist der Feind ernst zu nehmen, aber doch nicht so, dass man nicht mit ihm fertig werden könnte, und wir alle sind der vollen Überzeugung, dass wir den Sieg davontragen werden", schrieb General Samsonow an seine Gattin. „Das ganze Volk sympathisiert mit diesem Krieg und alle ziehen freudig gegen die Deutschen", so Samsonow weiter. Der Glaube an den bevorstehenden Sieg durchzieht übereinstimmend viele Briefe dieser Zeit.

Doch schon sehr bald waren viele Gefallene zu beklagen und die Todesnachrichten überschlugen sich. Die Erfahrung vom Krieg als persönliche Katastrophe und von der Unumkehrbarkeit der schrecklichen Ereignisse setzte sich tief in den Seelen der Menschen fest. Ein russischer Offizier schrieb: „Täglich gibt es schwere Gefechte an der ganzen Front. Viele sind auf dem Feld der Ehre zurückgeblieben, und es wird noch unzählbare weitere dieser Schicksale geben. Wer wird schon unversehrt zurückkehren? Überall dort, wo Gefechte tobten, sind die Schlachtfelder mit getöteten oder an ihren Verletzungen erlegenen russischen oder auch deutschen Soldaten übersät. Und wie viele werden noch fallen! Was für ein Greuel! Tod und Zerstörung ringsum."

Wie ein Aufruf zum Pazifismus, wie eine verzweifelte Beschwörung klingen die Zeilen aus dem Brief eines anderen russischen Offiziers: „Wer im Krieg war, an ihm teilgenommen hat, der kann verstehen, welch großes Übel er ist. Die Menschen sollten danach streben, ihn aus der Welt zu schaffen."

Vom Kampf zum grausamen Gemetzel

Die Kämpfe mutierten zu einem Gemetzel. „Wir verteidigen eine Brücke", schrieb ein Soldat. „Gestern wollten die Deutschen auf unsere Seite gelangen, aber nachdem wir sie bis zur Mitte der Brücke herangelassen hatten, eröffneten wir ein solches Höllenfeuer, dass sie Hals über Kopf davonlaufen mussten. Auf der Brücke waren buchstäblich Berge von Leichen aufgetürmt. Heute wollten sie die Überquerung erneut versuchen oder die Leichen bergen. Unsere Artillerie säuberte mit treffsicherem Feuer die Brücke von den rotgesichtigen Wurstfressern. Dann wollten sie rechts von uns auf Teufel komm raus herübergelangen. Sie stürzten sich in die Furt, bis zum Hals im Wasser, aber unsere Schützen ließen sie nicht einmal bis zur Mitte kommen. Nach dem Gefecht, heißt es, war das Wasser rot gefärbt. Aber wie sollte es auch anders sein, denn da wurden mindestens 5 000 bis 6 000 von ihnen getötet. Alle wurden vom Fluss verschlungen."

Ein anderer Soldat schrieb über ähnliche, an Grausamkeit nicht zu überbietende Kämpfe, sich mit Schaudern und stockendem Herzen daran erinnernd: „Wir saßen in den Schützengräben und wehrten die Angriff der Deutschen ab, aber sie kamen nicht näher als 400 Schritte ran, kehrten um und zogen sich zurück. Vier Mal näherten sie sich unseren Schützengräben (man konnte deutlich ihre Gesichter sehen), aber sie hielten unserem Feuer nicht Stand und machten kehrt. Sasonow und ich lagen nebeneinander im Graben, schossen auf ihre Offiziere und suchten uns die Soldaten aus, die größer waren. Und wie haben wir sie dann fertiggemacht, diese verfluchten Mistkerle! Sie kamen schweigend daher, ohne zu schießen, wie eine Mauer. Wir ließen sie nah heran, bis auf gute Schussweite, und dann eröffneten wir ein schreckliches Feuer. Die Vordersten fielen um, wie niedergemäht, und die Hinteren machten kehrt und rannten davon. Es lief uns eiskalt den Rücken hinunter und die Haare standen uns zu Berge. Ich schätze, Sasonow, der Wachtmeister und ich haben damals eine gehörige Zahl Deutsche ins Jenseits befördert. Sie waren schon verdammt nahe rangekommen. Ihre Gesichter waren bleich, als sie auf uns zuliefen. Es war schaurig. Gott verhüte, dass wir dort noch einmal sein müssen!"

Das unerträgliche Heulen der Granatwerfer

Es gab vermutlich nichts Schrecklicheres als das massive Artillerie-Vorbereitungsfeuer. Wenn rein gar nichts mehr vom Menschen abhängt, bleibt ihm nur übrig, eng auf den Boden gekauert auf das Ende des Beschusses zu warten, der aber einfach nicht enden will. Die Intensität solcher Artilleriebeschüsse erreichte eine solche Kraft, dass „die Kanonenschüsse zu einem allgemeinen Getöse verschmolzen, die Sonne verdunkelte sich, vor lauter Rauch war bis auf fünf Schritte nichts mehr zu sehen", wie ein Artillerie-Offizier schrieb.

Es kam vor, dass jemand, der unter Beschuss kam, die Nerven verlor, und dann „hätte man am liebsten geweint", wie ein Offizier schrieb. Später konnten viele das Heulen der Granaten nicht mehr hören und fingen bei einem erneuten Beschuss an zu schreien: „Dieser unablässige Geschützdonner und die Granatenexplosionen, vor denen nie Ruhe ist, ruinieren die Nerven endgültig. Unser General Schelenin fing sogar zu weinen an, wie ein kleiner Junge, die Nerven haben es nicht mehr ausgehalten. Rossoljuk heult auch wie ein Wolf."

Aber selbst in dieser unvorstellbaren Kriegshölle gab es Menschen, die sich ihr klares Denken und ihre Selbstbeherrschung bewahrten. Sie verließen die Schützengräben und gingen im Kugelhagel zum Angriff über. Diese unerbittlich verstreichenden Augenblicke vor einem Angriff beschreibt ein russischer Offizier so: „Endlich wurde der Befehl weitergegeben: Vorbereiten zum Angriff! Es durchfuhr uns wie ein Stromschlag; der eine begann seine Ausrüstung zu richten, ein anderer nahm seine Mütze ab und schlug das Kreuz, unwillkürlich spürte man das Herannahen des großen Augenblicks; aber da kommt schon der nächste Befehl: Vorwärts!; man schlägt das Kreuz, springt aus dem Graben und ruft: Brüder! Vorwärts zum Angriff! Wie die Ameisen krabbelten die Männer aus den Schützengräben, hielten die Richtung nach rechts, rückten gegen die Bajonette vor und sahen dem Tod in die Augen."

Entbehrung, Blut, Schützengräben, Tod der Kameraden – so sah der Erste Weltkrieg aus, wie ihn die Menschheit Anfang des 20. Jahrhunderts gemessen an seinem Ausmaß und den Kriegsopfern noch nicht kannte.

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