Roboterpuppen spielen Theater

Puppenspieler Wladimir Sacharow aus Tomsk. Foto: Alexej Buschow

Puppenspieler Wladimir Sacharow aus Tomsk. Foto: Alexej Buschow

Wladimir Sacharow aus Tomsk, ausgebildeter Ingenieur und Kybernetiker, macht Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts sein Hobby zum Beruf und wird Puppenspieler. Seine Handpuppen sind jedoch Wunderwerke der Technik und finden eine immer größer werdende Fangemeinde.

Theater in einer sibirischen Hütte

Sein "Theater der lebendigen Puppen" ist nicht einfach zu finden. „Anfahrt bitte nicht mit per Auto!“ heißt es auf Wladimir Sacharows Internetseite. Man muss schon mit dem Bus anreisen und hat dann noch einmal fünfzehn Minuten zu Fuß in Richtung des Flusses Tom vor sich. Überall gibt es hier noch alte russische Blockhütten, die sich zwischen den allgegenwärtigen Hochhäusern verlieren. Am Ende einer Gasse verbirgt sich im Schatten der Bäume ein solch klassisches Haus aus Holz. Dort wohnt der ehemalige Robotertechniker und heutige Puppenspieler Wladimir Sacharow.

In dieser Hütte finden die Aufführungen seines Puppentheaters statt. Im Erdgeschoss stehen selbstgebaute Holzbänken, die etwa fünfzig Gästen Platz bieten – der Zuschauersaal. Oft wollen die Gäste nach den erfolgreichen Aufführungen das Ensemble kennenlernen. "Wann erscheinen denn die Schauspieler und Mitarbeiter des Theaters?“ fragen sie. „Da können Sie lange warten – ich bin hier alles in einer Person“, erklärt ihnen Sacharow dann. Denn sein Betrieb ist eine Ein-Mann-Show: Er ist Drehbuchautor, Darsteller und Sprecher, Dekorateur, Beleuchter und Kostümdesigner in einem und kümmert sich auch noch um die Tontechnik und Verwaltung.

Mit einer verrückten Idee fing alles an

Sacharow trinkt Kräutertee aus einem großen Glas und berichtet, wie er 1991 den Entschluss fasste, ein Puppentheater zu eröffnen. Zuerst rieten ihm seine Freunde ihm ab: „Wozu? Und mit welchem Geld?“ Sein Vorhaben war damals tatsächlich absurd: Sich im Russland des Jahres 1991, als nach dem Zerfall der Sowjetunion das pure Chaos herrschte, mit Kunst beschäftigen zu wollen – das konnte nur ein Verrückter! Aber Sacharow träumte bereits seit seiner Kindheit von einem eigenen Puppentheater. Seine ersten Puppen aus Pappmaché baute er noch in der Schule. Anfang der Neunziger Jahre ging er aufs Ganze: „Entweder bau ich jetzt mein Theater oder nie“. Es sollte etwas ganz Besonderes werden, nicht vergleichbar mit einem x-beliebigen Marionetten- oder Stabpuppen-Theater. Es sollte ein Handpuppentheater werden. Aber was für eines! Mit völlig neuen Handpuppen! Er war inspiriert von der Idee, seinen Handpuppen Leben einzuhauchen, kybernetisches Leben. Kaum wahrnehmbare Steuerungen mit der Hand sollten ihren Körper bewegen.

Sein Projekt gelang. Seine Puppen können die Augen ein Stück öffnen, können winken oder mit ihren winzigen Fingern trommeln. In jeder seiner Puppen steckt ein unsichtbarer Mechanismus, der Kopf und Hände bewegt. Zuerst begann er mit irgendwelchen Sperrmüllteilen, Holzstücken aus dem Wald sowie Drähten und Metallteilen vom Schrottplatz. Auch die Blockhütte baute er selbst. Inzwischen haben sich seine Technik und auch das Theater tüchtig gemausert: Heutzutage sind die Püppchen aus sibirischer Zeder gefertigt und quicklebendig.

Kleine Zuschauer im "Theater der lebendigen Puppen" in Tomsk. Foto: Alexej Buschow

In der Theater-Festspiel-Hütte gibt es ein charakteristisches Ambiente mit einem Klang, der an Dolby Surround erinnert, und eine hochmoderne Beleuchtungstechnik. Sacharow hat sieben verschiedene Theaterstücke im ständigen Repertoire und zu seinen "Schauspielern" gehören fast 40 mechanische und elektromechanische Puppen, darunter so unterschiedliche Charaktere wie eine Indianerin, ein Nagetier, ein Hausgeist oder ein Igel. Sogar ein Menschenfresser gehört mit zum Ensemble und natürlich der obligatorische Kleine Prinz.

Lebendige Roboter

Außer den mechanischen Handpuppen fertigt Wladimir Sacharow auch elektromechanische und automatische. Diese können sich eigenständig bewegen und sogar sprechen. In den Puppen steckt recht komplizierte Elektronik. Die Software für seine Geschöpfe schreibt Wladimir Sacharow selbst, manchmal helfen ihm auch Freunde. Nach ihrer Aktivierung leben die Puppen-Roboter ihr eigenes Leben, weiß doch selbst ihr Schöpfer nicht immer, was sie sagen werden. Der Kniff dabei ist, dass das Programm ganz bestimmte Textbausteine in einer beliebigen Reihenfolge wiedergibt.

Gleich am Eingang zum Theater bekommt man eine Kostprobe davon: „Was für Gäste, ich bin perplex!“ artikuliert eine der Puppen. „Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor!“ entgegnet eine zweite. „Vergessen Sie nicht, Ihre Eintrittskarte zu kaufen!“ erinnert beharrlich eine hölzerne mechanische Alte, die in der Ecke sitzt und einen Schal häkelt. Und man sollte auch keinen Schreck bekommen, wen in den Toilettenräumen plötzlich eine Holzpuppe aus dem Wandschrank hervorprellt und sich danach erkundigt, ob denn alles in Ordnung sei. Die Puppen sind im Theater allgegenwärtig - in den Ecken, an den Wänden, sogar direkt unter der Decke.

Die Puppen-Roboter sind eine schnell wachsende Familie. Rund zweihundert Exemplare zählt sie inzwischen. Immer neue Verwandte fertigt Sacharow für Kunden auf spezielle Order. Abnehmer sind Freunde, Sammler, ein portugiesischer Puppenspieler, gar der russische Ex-Wirtschaftsminister German Gref; aber auch ein Fleischkombinat. Einige russische Firmen haben sich einen sprechenden Roboter für Werbeaktionen zugelegt. So sitzt zum Beispiel eine Paul-McCartney-Puppe im Schaufenster eines Sanitärausstatters und fordert die Passanten auf, Wannen und Waschbecken eines bestimmten Herstellers zu kaufen. Die Roboterpuppe macht sich für ihren neuen Eigentümer durchaus bezahlt.

Für einen seiner elektromechanischen Lieblinge berechnet Sacharow rund anderthalbtausend Euro. Er braucht auch zur Fertigung über einen ganzen Monat. Dank der Einnahmen aus dem Verkauf konnte Sacharow den Bau und die Ausstattung seines Theater finanzieren. Inzwischen, so sagt er, reicht ihm auch der Theaterbetrieb zum Leben. Doch sein eigentliches Talent schlummert in der Seele der Schauspielerpuppen.

Der Meister und seine Schüler

Sacharow begrüßt nicht nur Kunden, sondern auch Schüler in seinem Haus. Sie wohnen direkt bei ihm im Theater. Eine Italienerin quartierte sich für drei ganze Monate ein. "Ich sah den Tomsker Puppenspieler zum ersten Male auf einem Festival in Parma und verliebte mich sofort in seine automatischen Handpuppen", berichtet sie, und sei gleich darauf nach Sibirien gefahren, um Privatunterricht im Puppenspiel und in der Puppenherstellung zu nehmen.

„Die Puppen zu fertigen ist eine recht komplizierte Angelegenheit",  bestätigt Meister Sacharow. "Die Lehrlinge müssen zunächst einmal lernen, das Holz zu bearbeiten und einfache Dinge, wie Finger herauszupräparieren, anschließend auch den Kopf und andere bewegliche Teile. Bis zu den Augen kommen die Wenigsten!" "Naja", gibt der Ahnherr aller Roboterpuppen zu, "Öffnungen mit einer Stärke von einem halben Millimeter ins Holz zu bohren, ist aber auch nicht jedermanns Sache.“

Unlängst trat der Ukrainer Vitalij in Sacharows Fußstapfen. Vitalij arbeitete sein ganzes Leben lang als Betriebswirt und hatte noch eine vielversprechende Karriere als Banker oder Vorstand vor sich. Aber im tiefsten Inneren wollte er Märchen schreiben und diese dann in einem Theater aufführen lassen. Inspiriert durch Sacharows Vorbild ließ auch Vitalij sein altes Leben hinter sich. Er fuhr nach Tomsk, quartierte sich bei Sacharow ein und erlernte die Kunst der Puppenfertigung. „Dieser Mensch hat mich in Erstaunen versetzt", bekennt der Nestor. „Auch er ließ alles stehen und liegen und erlernte noch einmal einen neuen Beruf. Statt in der Bank zu arbeiten, führt er heute vor einer Kinderschar mit ganzem Herzen Theaterstücke auf."

Mit jedem Automaten-Püppchen dringt der Ruf des engagierten russischen Puppenspielers hinaus in die Welt. Inzwischen haben seine Puppenroboter in den verschiedensten Ländern der Welt ein neues Heim gefunden - in Italien und Griechenland, in Spanien und Frankreich, in Litauen oder in Japan. Ein Vertreter ihrer Zunft stellt die Persönlichkeit Robert Bosch dar und wohnt standesgemäß im Stuttgarter Museum des deutschen Ingenieurs und Erfinders.

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