„Souveräne Ostukraine“: Putins gespaltene Zunge

Bild: Alexej Jorsch

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Wladimir Putins Rhetorik beunruhigt westliche Medien und Politiker. Doch nicht immer steckt hinter den Worten des russischen Präsidenten tatsächlich eine gewollte Provokation, sondern ein Fehler oder die Interpretation des Übersetzers.

Sprache ist mächtig und wird in Politik und Diplomatie daher sehr gezielt eingesetzt. Problematisch kann es werden, wenn Dritte ins Spiel kommen, etwa bei einer Übersetzung. Die nur geringfügig falsche Übersetzung eines Wortes kann dazu führen, das zwei Länder ihr Verhältnis zueinander ändern. Eine einzige fehlerhafte Darstellung eines Gedankens kann drastische Auswirkungen auf einen Verhandlungsprozess haben und die durch die Medien geprägte Stimmung der Menschen stark beeinflussen. Diese Ungenauigkeiten sind auch ein Beleg dafür, dass Sprachen – so traurig das auch sein mag – für die Menschheit immer noch eine Hürde darstellen, die ein ebenbürtiges Niveau des gegenseitigen Verständnisses erschweren.

Am vergangenen Sonntag, dem 31. August, gab der russische Präsident Wladimir Putin im staatlichen Fernsehen des Landes ein Interview zur Krise in der Südost-Ukraine. Unter anderem sagte er wörtlich Folgendes: „Wir müssen schnell zu substanziellen, gehaltvollen Verhandlungen kommen – und zwar nicht über technische Fragen, sondern über Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und die ‚gosudarstwennostj‘ im Südosten der Ukraine, um die legitimen Interessen der dort lebenden Menschen vorbehaltlos zu sichern.“ Das Wort „gosudarstwennostj“ wurde hier absichtlich im Original belassen.

Das russische Wort „gosudarstwennostj“ (государственность) wurde in praktisch allen englisch- und deutschsprachigen Medien mit „Souveränität“ oder "Eigenstaatlichkeit" übersetzt. Diese Übersetzung ist an sich nicht völlig falsch, aber in dem konkreten Zusammenhang, in dem Putin das Wort verwendete, nicht genau und war deshalb – wie sich erwiesen hat – irreführend. „Gosudarstwennostj“ ist die Substantivierung des Adjektivs „gosudarstwennyj“ („staatlich“), welches seinerseits vom Wort „gosudarstwo“ abgeleitet wurde, das „Staat“ oder „Staatswesen“ bedeutet. In den beiden gebräuchlichsten Wörterbüchern der russischen Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts, Uschakow und Oschegow, sowie im Jefremow, dem populärsten Wörterbuch der Gegenwart, wird „gosudarstwennostj“ wie folgt erläutert: „Regierung“ oder „Staat“, „System“ oder auch „politische Ordnung“. Im Russischen kann das Wort „gosudarstwennostj“ deshalb auf zweierlei Weise interpretiert werden: die Organisation einer Regierung, ihre Funktionsfähigkeit oder kurz gesagt Regierungsgewalt oder aber die Organisation eines Staates, seine Systematik, also seine Souveränität. Tatsächlich veranlasste die doppelte Bedeutung dieses Wortes die russischen Journalisten dazu, den Kreml zu bitten, die Äußerung zu erklären. Der Präsidentensprecher Dmitrij Peskow erläuterte daraufhin, dass Putin nicht von der Souveränität der südöstlichen Ukraine, sondern von umfassenden Verhandlungen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien gesprochen habe, die die Interessen sämtlicher Beteiligten berücksichtigen und zu Ordnung und Stabilität im Südosten führen würden, etwas, das Putin bereits mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko im Rahmen dessen besprochen hätte, was eine friedliche Lösung der Krise sein sollte, wie er sagte.

 

Der Leser ist der Leidtragende

Englisch- und deutschsprachige Medien wählten jedoch für die Übersetzung des Wortes „gosudarstwennostj“ ausschließlich die Variante „Souveränität“, und nicht etwa „Regierungsgewalt“ oder „politische Ordnung“. Souveränität impliziert den Status einer unabhängigen Nation. Und durch ihre Übersetzungsvariante der Äußerung Putins stellten die Medien die Möglichkeit in den Raum, der russische Präsident unterstütze die Unabhängigkeit des Donbass. Sogar nachdem Peskow den Sachverhalt aus

russischer Sicht erklärt hatte und die Richtigstellung durch die englischsprachigen Medien verbreitet worden war, hieß es in den Schlagzeilen immer noch: „Putin spricht über die Souveränität für die östliche Ukraine“, „Putin drängt auf Souveränitätsverhandlungen für die östliche Ukraine“ oder „Putin nötigt Kiew zu Souveränitätsverhandlungen für die südöstliche Ukraine“. Eine englischsprachige Zeitung nannte Putins Erklärung eine „vage und provozierende Verdrehung des Begriffs“. Aber wenn er vage und provozierend gemeint war, warum hätte der Präsidentensprecher das Problem dann sofort klären sollen, indem er vermeldet, dass Putin keine Souveränität im Sinne eines unabhängigen Staats meinte?

Missverständnisse sind üblich, wenn Nachrichten aus einer Sprache in eine andere übersetzt werden müssen. Sicher ist das Problem der „Donbass-Souveränität“ nicht der erste Fall der Missdeutung einer russischen Behauptung durch den Westen, und auch in den russischen Medien kommen, wie überall, ungenaue Interpretationen vor. Für die Medien selbst

ist das in Wirklichkeit kein solch großes Problem. Ein so kleiner Ausrutscher wie dieser wird wohl kaum Auswirkung auf das Image, den Leserkreis oder die Finanzierung des Mediums haben. Es ist der Leser, der auf der Suche nach exakten und unverfälschten Informationen der Hauptleidtragende dieser Ungenauigkeit ist. Es ist der Leser, der nach wahren Erkenntnissen sucht und stattdessen wegen mangelhaften Verstehens eines Begriffes mit einer Halbwahrheit vorliebnehmen muss. „Gibt es überhaupt eine objektive, gerechte und völlig zuverlässige Informationsquelle?“, wird er sich fragen. Wo können wir erfahren, was unser Nachbar wirklich gesagt hat und was nur hineininterpretiert wurde? Das ist eine der größten Herausforderungen, der wir heute gegenüberstehen.

 

Sergei Tseytlin wurde in Moskau geboren, wuchs in New York auf und lebt seit 16 Jahren in Italien. Seine Erzählungen und Essays wurden in London, Moskau und Venedig veröffentlicht. 

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