Baut Russland wieder nukleare Mittelstreckenraketen?

Bild: Konstantin Maler

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Russland könnte aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) aussteigen und wieder Mittelstreckenraketen produzieren und stationieren. Politikexperte Alexej Arbatow mahnt, die militärpolitischen Folgen sorgfältig abzuwägen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat angekündigt, die Russische Föderation könne internationale Verträge einseitig aufkündigen. Der Präsident hatte dabei möglicherweise den Ausstieg der USA aus dem 1972 geschlossenen Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) im Jahr 2002 im Sinn. Die USA hatten den Ausstieg damals mit Überlegungen, die die nationale Sicherheit beträfen, begründet. Gegenüber russischen Parlamentariern rückte Putin ein vergleichbares Handeln Russlands in den Bereich des konkret möglichen.

Der Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem ABM-Vertrag kann als Fehler betrachtet werden. Dieser Ansicht sind auch Vertreter der US-amerikanischen Regierung. Bis heute sind die Washingtoner Pläne eines Raketenabwehrschilds nicht verwirklicht worden, insgesamt stehen die USA unter sicherheitsstrategischen Aspekten schlechter da als zuvor. So hätten die USA laut ABM-Vertrag bis zu 100 strategischer Abfangraketen in Gefechtsbereitschaft halten können, nun wollen sie bis zum Jahre 2020 insgesamt 40 bodengestützte Abfangraketen stationieren. Die in Europa und Asien und auf mehreren Schiffen stationierten Systeme „Standard-3“ verfügen aufgrund ihrer technischen Parameter nur über äußerst begrenzte Möglichkeiten, strategische ballistische Raketen zu treffen, umso mehr, nachdem im Jahre 2013 die modifizierte Version SM-Block IIB abgesetzt wurde.

Russland hat durch den im Jahre 2007 beschlossenen Ausstieg aus dem Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) ebenfalls nichts gewonnen. Russland hat auch ohne vertragliche Verpflichtung bis heute keine der damals vereinbarten Höchstgrenzen oder Quoten durchbrochen, im Gegenteil – Russland erreicht in dieser Beziehung gerade 30 bis 40 Prozent des Erlaubten. Jedoch hat diese ausschließlich politische Geste dazu geführt, dass Russland die Länder der NATO im Bereich Stationierung und Dislokation von militärischen Kontingenten und schweren Waffen in Europa über die vereinbarten Quoten nicht mehr kontrollieren kann. Jetzt bleibt für Russland zu hoffen, dass in den Ländern des Baltikums, in Polen, Rumänien und Bulgarien keine neuen militärischen Gruppierungen der Allianz unter dem Vorwand der Krise in der Ukraine installiert werden, wofür diese Länder, die keinen vertraglichen Verpflichtungen unterliegen, vollkommen freie Hand hätten.

 

Kündigt Russland den INF-Vertrag?

Nun könnte, wie bereits 2007, der Ausstieg aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) von 1987 diskutiert werden. In der aktuellen politischen Lage ist das Thema hochaktuell.  

Schon in seiner Münchener Rede vom Februar 2007 wies Putin darauf hin, dass eine Reihe von Drittstaaten Mittelstreckenraketen bauen würden, wohingegen es nur Russland und den USA verboten sei, über Systeme dieser Klasse zu verfügen. Im selben Jahr hatte der derzeitige Leiter des Generalstabs, Armeegeneral Juri Balujewski, einen eventuellen Ausstieg

Russlands aus dem INF-Vertrag mit Plänen der USA begründet, bis 2012 Objekte der Raketenabwehr in Polen und in Tschechien stationieren zu wollen. In diesem Kontext bräuchte Russland Mittelstreckenraketen weniger dafür, um Drittländer auf Distanz zu halten, sondern gegen die NATO selbst.

Dann kam die Obama-Administration, und im Jahre 2009 wurde das Programm der republikanischen Amtsvorgänger außer Kraft gesetzt, indem dieses durch einen angepassten Stufenplan für Europa zur Stationierung von Raketenabwehrsystemen ersetzt wurde. Im Jahre 2013 setzte Obama die vierte Etappe des Programms außer Kraft. Das wurde von Moskau als nicht ausreichend angesehen.

 

Beginnt ein neues Wettrüsten?

Das Erfordernis, eine Gegenwehr zu den amerikanischen Mittelstreckenraketen aufzubauen, wird jetzt auch als Begründung dafür verwendet, dass Russland Mittelstrecken produziert und möglicherweise aus dem Vertrag aussteigt. Experten sehen die Notwendigkeit, um amerikanische luft- und seegestützte Flügelraketen abwehren zu können. Zudem hätten die  USA mehrfach technische Verletzungen des INF-Vertrags zugelassen, indem sie Raketen einer analogen Klasse als Ziele zum Testen der Raketenabwehr gebaut hätten.

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verschärfung der Spannungen rund um die Ukraine, der Politik der USA gegenüber Russland sowie antiamerikanischer Kampagnen innerhalb Russlands, bekommt die Diskussion um den INF-Ausstieg neue Nahrung. In diesem Lichte betrachtet, sind die Gründe für einen Ausstieg Russlands eher nicht das Ergebnis einer seriösen strategischen Analyse. Die wäre aber notwendig, um die gesamte Tragweite der militärpolitischen Folgen für Russland auf internationaler Arena erfassen zu können.

Was die Drittländer (Israel, Iran, Saudi-Arabien, Pakistan, Indien, China, Nordkorea) betrifft, so sind deren bodengestützte Mittelstreckenraketen entweder gegeneinander gerichtet, oder gegen die USA und deren

Verbündete, nicht aber gegen Russland. In jedem Falle haben die gesamten russischen Nuklearwaffen aller Klassen eine vier- bis Fünffache Überlegenheit über die Nuklearwaffen aller Drittländer zusammengenommen, und das nicht nur zahlenmäßig, sondern mehr noch mit Hinblick auf deren Qualität.

Die Bewaffnung, über die Russland verfügt, um die USA auf der Basis einer Parität zur Zurückhaltung zu bewegen, ist allemal ausreichend, die Drittländer insgesamt oder im Einzelnen zu zügeln. Zusätzliche Mittelstreckenraketen werden dafür nicht gebraucht.

Jedoch kann der Ausstieg Russlands aus dem INF-Vertrag den USA und ihren Bündnispartnern in Europa in die Hände spielen. Sie hätten dann einen realen Grund dafür, Besorgnis über die russischen ballistischen und Flügelraketen mittlerer Reichweite zu äußern. Ein solcher Schritt könnte eine Erweiterung des Europäischen Raketenabwehrschildes nach sich ziehen – es würde erweitert und perfektioniert werden. Dies wiederum könnte Moskau umso mehr beunruhigen, weil die Länder der NATO dann in der Lage sein würden, nicht nur mit Verteidigungssystemen zu reagieren, sondern durchaus in die Offensive zu gehen.

Der Ausstieg aus dem INF-Vertrag gibt Russland die Möglichkeit, Raketen mittlerer Reichweite zu stationieren, die geeignet sind, gegen Drittländer eingesetzt zu werden, die jedoch keinerlei Einfluss auf das strategische

Gleichgewicht mit Washington haben. Dafür hat Russland ballistische Interkontinentalraketen, jedoch keinerlei Waffen, über die in den Verträgen von 1987 Vereinbarungen getroffen worden sind und die lediglich bis nach Alaska reichen. Washington bekommt in einem solchen Falle wiederum die Möglichkeit, neue Angriffsraketen mittlerer Reichweite auf dem Territorium seiner Bündnispartner in Europa zu stationieren, von denen einige das gesamte russische Territorium bis hin zum Ural und darüber hinaus unter Beschuss nehmen. Sie sorgen für ein starkes und äußerst destabilisierendes Übergewicht des strategischen Potentials der USA. Damit entsteht ein ernsthaftes strategisches Ungleichgewicht, ganz zu schweigen vom Beginn einer komplett neuen und, wie es schien, längst überwunden geglaubten Etappe der Konfrontation mit dem Westen.

 

Alexej Arbatow ist Leiter des Zentrums für internationale Sicherheit beim Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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