Ukraine und Russland ringen um Identität

Bild: Tatjana Perelygina

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Die diplomatischen Bemühungen um einen Frieden im innerukrainischen Konflikt sind langwierig und mühsam. Schuld daran ist eine fehlende Selbstidentität der ukrainischen Gesellschaft. Aber auch Russland muss sein Verhältnis zum kleinen Nachbarn überdenken – sonst kann es keine diplomatische Lösung geben.

Im Donezbecken herrscht Hoffnungslosigkeit. Getragen wird diese von den gewaltsamen Auseinandersetzungen, die regelmäßig Menschenleben fordern und die Infrastruktur zerstören. Dabei besteht ein Gleichgewicht der Kräfte – zu dieser Einsicht scheint aber niemand bereit. Warum sind die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, die traditionsgemäß als brüderlich galten, in einem solch schlechten Zustand?

Den Konflikt provoziert hat die Absicht des Westens, die Ukraine an sich zu binden – ohne dabei irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Ausdruck dafür ist die Kampagne Kiews zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der Europäischen Union. Russland protestierte und dies schien Anlass genug, um die Zerstörung in Gang zu setzen. Die Folgen aber wären nicht derart fatal, wäre das Potenzial innerhalb der Ukraine, aber ebenso auch zwischen der Ukraine und Russland, für eine national-politische Eskalation nicht so groß.

 

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Der russische Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1918-2008) betonte in seinen Memoiren in weiser Voraussicht, dass „die ukrainische Frage eine der gefährlichsten Fragen unserer Zukunft ist. Auf beiden Seiten sind die Mentalitäten darauf schlecht vorbereitet." Solschenizyn fuhr fort: „So wie es zwecklos ist, den Ukrainern zu beweisen, dass Kiew unser aller Ursprung und geistige Heimat ist, so wollen auch die Russen gar nicht daran denken, dass die Menschen am Dnepr ein anderes Volk sind. Gerade die Bolschewiken haben viel Streit und Schmerz verursacht."

Solschenizyn zeigte das Kernproblem sehr deutlich auf: den Konflikt der Selbstwahrnehmungen. Darin liegt die Ursache für den aktuellen Konflikt im Südosten der Ukraine. Es ist die Wurzel für das tragische Missverständnis zwischen den Gesellschaften in Russland und in der Ukraine.

 

Manchmal kann kulturelle Nähe problematisch sein

Russen und Ukrainer sind sich als Völker und Kulturgemeinschaften sehr nah. Sie verbindet eine gemeinsame Geschichte – ein zweischneidiges Schwert. Eine gemeinsame Geschichte muss nicht unbedingt zu einer Annäherung führen. Es ist kein Zufall, dass gerade der Umgang mit der Geschichte die schärfste Trennlinie innerhalb der Ukraine darstellt. Auf beiden Seiten stehen Ereignisse und Bilder, die die nationale Identität definieren. Es ist unmöglich, den Standpunkt, Nationalisten, die Seite an Seite mit den Faschisten kämpften, seien Nationalhelden, und den Siegestag, wie ihn Menschen sowjetischer Prägung feiern, miteinander zu versöhnen.

Die kulturelle Nähe zwischen Russen und Ukrainern in Verbindung mit der Vielschichtigkeit der ukrainischen Gesellschaft ist eine tickende Zeitbombe

unter dem staatlichen Fundament der Ukraine. Der Zerfall der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks an der Schwelle zu den 1990er-Jahren brachte einen eigenen Typ der Selbstbestimmung hervor: das Streben nach „Europa", weg vom „Imperium". In Mittel- und Osteuropa, einschließlich der baltischen Staaten, hat dies funktioniert. Danach aber wurde dieser Impuls immer schwächer.

Einerseits spürte Europa selbst die Linie zwischen dem „legitimierten" Bereich seiner kultur-historischen Präsenz und dem, was einer anderen Gemeinschaft zugehörig war. In der mehrheitlichen Wahrnehmung der Europäer lag die Ukraine außerhalb des eigenen Einflussbereichs. Aber anders als beispielsweise die baltischen Staaten wies die Ukraine nie eine klare Selbstidentität auf. Die Gesellschaft schwankte.

Der Druck hin zu einer Selbstbestimmung führte zu dem, was wir heute beobachten. Gleichzeitig fördern die Krise und der Konflikt den Versuch, doch noch eine nationale Identität zu formulieren, nämlich eine anti-russische. In den 1990er-Jahren scheiterte das Vorhaben, nun gibt es einen neuen Anlauf. Es ist ein gefährliches Projekt, denn es provoziert die Ablehnung mindestens eines Teils der Bevölkerung und garantiert den Widerstand Russlands.

 

Die Ukraine ist ein sensibles Thema für Russen

Aber auch für Russland sind die Vorgänge nicht bloß ein weiterer regionaler Konflikt. Solschenizyn schrieb in seinem berühmten Artikel von 1990 „Wie sollen wir Russland gestalten" von der untrennbaren Gemeinschaft der drei

slawischen Republiken. Sie zu erhalten – nicht die UdSSR als solche – sei Grundlage für die Zukunft Russlands, so seine Annahme.

Die wichtigste Erkenntnis aber ist, dass das russische Bewusstsein seine eigenen Grenzen noch nicht bestimmt hat. Dabei geht es nicht um die politisch-staatlichen, sondern die mentalen Grenzen. Die eurasische Integration, das Konzept der russischen Welt, die Reaktion auf die Ereignisse in der Ukraine: das alles sind Bestandteile der postsowjetischen Bildung einer Selbstidentität. Und für Russland ist dieser Prozess besonders schwer. Denn der Zerfall der Sowjetunion ging für uns mit dem Verlust dessen einher, was wir für einen festen Bestandteil „unseres Landes" hielten.

Diese antagonistische, aber eng miteinander verflochtene Selbstidentifizierung ist der Grund dafür, dass alles so tragisch und schmerzhaft verläuft. Äußere Faktoren und geopolitische Überlagerungen sind erschwerende, aber nicht ausschlaggebende Umstände. Eben deshalb kommt die Diplomatie so schwer voran.

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