Bild: Konstantin Maler
Vor einem Jahr gliederte Russland die Halbinsel Krim in die Russische Föderation ein. Es war der Auftakt für einen blutigen und anhaltenden Konflikt im Donbass im Südosten der Ukraine. Die zentralen Forderungen der russischen Seite während der zahlreichen Verhandlungen seit dem Frühjahr vergangenen Jahres riefen bei westlichen und ukrainischen Politikern und Beobachtern Skepsis hervor. Russland forderte, wenn schon eine Unabhängigkeit nicht realisierbar sei, so doch wenigstens eine maximale Föderalisierung der östlichen Territorien.
In der Tat kann man die Ukraine-Politik des Kremls wohl kaum als erfolgreich bezeichnen. Die Erwartungen im Hinblick auf die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk haben sich nicht erfüllt. Warum, wo doch der Anschluss der Krim so erfolgreich verlaufen war? Warum konnte die gleiche Strategie im Donbass nicht umgesetzt werden? Die wichtigsten Gründe dafür sind in der Ukraine selbst zu suchen. Russische Politiker und Diplomaten haben es lange Zeit für unnötig erachtet, die bloße Existenz dieser Gründe in Betracht zu ziehen.
Nach dem Anschluss der Krim herrschte Euphorie: Im Referendum sprachen sich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für den Anschluss der Krim an Russland aus. Es gab keinen militärischen Widerstand, einen friedlichen Abzug ukrainischer Truppen und groß angelegte Versammlungen und Märsche zur Unterstützung russischer Politik. Davon inspiriert, haben zahlreiche Vertreter der russischen Führungselite angenommen, dass diese Vorgehensweise auch im Südosten der Ukraine erfolgreich sein würde. Doch das Krim-Szenario in dieser Region zu inszenieren, ist misslungen.
Das Scheitern hat mehrere Gründe. Zum einen wurde die Stimmung der Bevölkerung in den östlichen Teilen der Ukraine unterschätzt. Obwohl die russischsprachige Bevölkerung dort, wie auch auf der Krim, eine Mehrheit bildet und Russland samt seiner Politik befürwortet, bestand ihr Anliegen ursprünglich aus nur zwei zentralen Forderungen. Erstens: Es sollten Garantien für den rechtmäßigen Status der russischen Sprache zumindest in diesen Regionen erbracht werden. Zweitens: Die Regionen wollten Verfügungsgewalt über die Steuereinnahmen, um die Mittel dem sozialen Sektor zukommen zu lassen.
Nicht nur, dass die Bevölkerungsmehrheit keine Abtrennung von der Ukraine wollte; sie dachte nicht mal an eine wirkliche Föderalisierung, auf die der Kreml immer wieder pochte. In Umfragen aus dem Frühjahr 2014 sprachen sich 70 Prozent der Einwohner im Südosten des Landes gegen einen Anschluss an Russland aus. Darüber hinaus wurden Versuche unternommen, Veränderungen in diesen Regionen ohne die Unterstützung des Volkes, sondern allein durch Wechsel der Führungsspitze umzusetzen. Nach genaueren Untersuchungen wird deutlich, dass die allumfassende
Unterstützung Russlands im Osten ein Mythos ist. An diese Idee hatte auch die russische Führungselite geglaubt. Die Vision von „Neurussland" in der Ukraine war aber von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ein weiteres zentrales Problem, mit dem man sich in Russland unerwartet konfrontiert sah, war der Widerstand der ukrainischen Führung, die die östlichen Landesteile nicht aufgeben wollte. Noch unter dem Eindruck der Ereignisse auf der Krim stehend, beschloss der Kreml, die Aufständischen im Osten der Ukraine zu unterstützen, weil er mit einem schnellen Sieg rechnete. Politiker und ihre Berater nahmen an, dass Kiew, ohnehin vom Maidan erschöpft, keinen ernsthaften Widerstand leisten würde, wenn im Osten des Landes Rufe nach Unabhängigkeit und Annäherung an Russland laut würden.
Der Kreml unterschätzte jedoch eine ganze Reihe von Faktoren. Der wichtigste Faktor ist die ukrainische Identität. In der Zeit seit der ukrainischen Unabhängigkeit wuchsen mehrere Generationen heran, die sich selbst als Teil eines eigenständigen, ganzheitlichen Landes namens Ukraine mit seiner Geschichte und seinen Helden wahrnehmen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion strebten die Bürger dieses Landes danach, einen eigenen Platz zu finden, und sie haben ihn gefunden, indem sie eine starke Selbstwahrnehmung als eigenständiges Volk entwickelten. Auf der Grundlage dieses gereiften nationalen Bewusstseins der Ukrainer begann Kiew, Widerstand zu leisten. Die Truppen der Antiterroroperation gingen in
die Offensive, begannen, die Gebiete unter der Kontrolle der Aufständischen zurückzuerobern und ihnen ernstzunehmende Verluste beizubringen.
An dieser Stelle ist es angebracht, die westliche Unterstützung an die Ukraine in Form von Geld, Ausrüstung und Waffen zu erwähnen. War das ausschlaggebend dafür, dass Kiew die Aufständischen teilweise zurückdrängen konnte? Nein, es war die nationale Identität, das Gefühl der Verantwortung für das eigene unabhängige Land, die Wahrnehmung einer gemeinsamen Nation, die dafür zentral waren, dass die anfänglichen Pläne Russlands nicht von Erfolg gekrönt waren. Das ist einer der wichtigsten Irrtümer Russlands. Die Diplomatie hat sich verschätzt und die Folgen werden noch in Jahrzehnten zu spüren sein.
Es zeigt sich, dass Russland lange Zeit versäumt hat, den Ukrainern eigene Werte und Interessen „auf die sanfte Tour" zu vermitteln. 24 Jahre lang wurde die Ukraine von Russland als ein halbfertiger Staat betrachtet, der sich zwar abspaltete, aber bald nach Russland zurückkehren würde. Das war eine Fehleinschätzung der Außenpolitik und wirkte sich für Russland im gesamten Ukraine-Konflikt negativ aus.
Maksim Polyschuk ist ein Student des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) an der Fakultät für Internationale Beziehungen sowie am Internationalen Institut für Energiepolitik und Diplomatie. Er ist zudem einer der Leiter der Studentenvereinigung der MGIMO, einer Organisation, die bereits zahlreiche runde Tische mit bekannten russischen Politologen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens veranstaltet hat.
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