War die zweite Front wichtig?

Bild: Tatjana Perelygina

Bild: Tatjana Perelygina

Historiker diskutieren über den Kampf der Alliierten gegen Nazi-Deutschland.

Alexej Isajew: Amerika brach den Nazis 
das Genick, die UdSSR 
das Rückgrat

Das Zusammenspiel der Alliierten bei der Planung und Durchführung militärischer Operationen gegen Nazi-Deutschland war durchwegs ein äußerst kompliziertes Element der 
gemeinsamen Strategie. Parallele Offensiven an unterschiedlichen Fronten bringen offensichtliche Vorteile. Doch in der Praxis stoßen solche Vorhaben auf erhebliche Schwierigkeiten.

Zwischen der UdSSR und den westlichen Alliierten fand tatsächlich kein Austausch statt, und es gab keine Absprachen zum gemeinsamen Vorgehen. Die Ursachen dafür liegen allerdings nicht auf politischer Ebene, sondern in objektiv gegebenen Problemlagen, die man trotz der Bündnistreue nicht ignorieren konnte.

Bei den Vorbereitungen zur Sommeroffensive 1944 musste die Rote Armee angesichts mangelnder Munitionsvorräte die Operation Bagration in Weißrussland aufschieben, die dann auch nicht gleichzeitig mit der Landung in der Normandie begann. Ebenso musste die sowjetische Führung aufgrund der schlechten Witterungsverhältnisse (sie verhinderten den Einsatz der Luftstreitkräfte) den Beginn der Polenoffensive im Januar 1945 verschieben. Das Vorrücken der Sowjetarmee von der Weichsel bis zur Oder setzte ein, als die Ardennen-Krise bereits überstanden war. In beiden Fällen hätte ein früherer Beginn der Offensiven für die Sowjetarmee das Risiko eines Misserfolgs nach sich gezogen. Die westlichen Verbündeten ihrerseits begriffen, dass es nicht gerade zweckdienlich war, angesichts einer drohenden Krise im Mittelmeer die Kräfte auf dem Geleit arktischer Schiffskonvois zu konzentrieren.

Die Eröffnung der zweiten Front in Europa war lange Zeit Anlass für heftige politische Debatten. In der zugespitzten Situation wurden die USA und Großbritannien offen beschuldigt, die Eröffnung der Front aufzuschieben, um die UdSSR im Kampf gegen Deutschland auszuzehren. Bedeutender allerdings erscheint die These von den großen technischen Schwierigkeiten einer kontinentalen Invasion vom Meer aus. Das zentrale Problem dabei stellte die Einnahme eines Meerhafens dar, um die kontinuierliche Versorgung eines größeren Truppenverbands zu gewährleisten (eine kleinere Landungstruppe wäre schnell ins Meer abgedrängt worden). Der Angriff auf Dieppe 1942 zeigte, dass die Deutschen sich dieser Bedrohung bewusst waren und die französischen Häfen auf die Verteidigung entsprechend vorbereitet hatten. Zugleich garantierte die Einnahme des Hafens an sich noch keinen Erfolg, denn seine Infrastruktur hätte von den Deutschen bei ihrem Rückzug zerstört werden können, wie es im Fall von Cherbourg geschah. Dementsprechend fand die Landung statt, als die Idee von der Einrichtung eines provisorischen Hafens auf der normannischen Küste ausgereift war – mit künstlichen Wellenbrechern, schwimmenden Mulberry-Landungsbrücken und einer starken Luftabwehr. Die Idee von den Mulberry-Häfen entstand im Herbst 1943. Es folgten monatelange Vorbereitungen, und im Juni 1944 hatte die Landungsoperation dann Aussicht auf Erfolg. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Amerikaner die treibende Kraft dieser Operation gewesen sind. Präsident Roosevelt bestand entschieden darauf, dass die Landung in Frankreich 1944 stattfinden sollte.

Will man die Bedeutung der zweiten Front und der westlichen Alliierten bei dem Sieg über Deutschland in einem Satz zum Ausdruck bringen, müsste dieser lauten: „Die Briten und Amerikaner brachen der deutschen Luftwaffe das Genick, die UdSSR brach den deutschen Bodentruppen das Rückgrat.“ In der Tat kommen 75 Prozent der deutschen Verluste an Soldaten auf die deutsch-sowjetische Front. Selbst nach der Landung in der Normandie und der Eröffnung einer zweiten Front in Europa überstiegen die Gesamtverluste der Deutschen an der Ostfront ihre Verluste an der Westfront um das Dreifache. Allerdings wurden große Luftwaffenverbände nach ihrer massiven Konzentration im Osten seit 1941 schrittweise an die Westfront und für die Luftabwehr des Dritten Reiches abgezogen. Die Tagesangriffe US-amerikanischer Bomber auf Deutschland in Begleitung von Jagdflugzeugen wurden zu einer Art „Köderfang“ für die deutschen Jagdflieger. Der Frühling 1944 wurde zu einem echten Aderlass für die deutschen Jagdgeschwader.

Die Flugzeugverluste im Westen überstiegen die im Osten erstmals im Herbst 1942 und dann in der ersten Hälfte des Jahres 1943: Im November 1942 verlor Deutschland an der West-
front 595 und an der Ostfront 224 Flugzeuge. Im Dezember waren es ent-
sprechend 386 beziehungsweise 408 
Maschinen. Im Juli 1943 verlor die Wehrmacht an der Ostfront 558, am Mittelmeer hingegen 711 und im Westen beziehungseise bei der Luftabwehr im Reich 526 Flugzeuge. Die Kämpfe an der deutsch-sowjetischen Front im Jahr 1944 forderten von der Luftwaffe gerade mal 20 Prozent ihrer unwiederbringlichen Flugzeugverluste. Vor der Landung in der Normandie waren von insgesamt 4 475 Flugzeugen 2 340 im Westen im Einsatz. Die Bedeutung eines solchen Abzugs der Luftstreitkräfte in den Westen ist nicht zu unterschätzen, denn dadurch bekamen die sowjetischen Flieger einen größeren Handlungsspielraum.

Den Beitrag sowjetischer Soldaten und Offiziere zu übersehen oder zu überschätzen, ist unmöglich. Der Sieg wurde um den millionenfachen Preis ihrer Leben, ihres Heldentums, ihrer Selbstlosigkeit und ihres Kampfes errungen. Doch die zweite Front beschleunigte den Sieg über Deutschland. Und half die Leben vieler sowjetischer Soldaten zu bewahren.

Alexej Isajew ist Doktor der Geschichtswissenschaften. Er erforscht die Kriegsgeschichte der Jahre 1941–1945 auf Grundlage russischer und internationaler Archivquellen.

 

Michael Jabara Carley: Die Hilfe der Alliierten war ein Tropfen auf den heißen Stein

Am 3. Juli 1941, elf Tage nach dem Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR, traf der sowjetische Botschafter in London, Iwan Maiski, den britischen Außenminister Anthony Eden zu einem Gespräch über die militärische Lage und die britisch-sowjetische Kooperation im Militärbereich. Maiski soll dabei gesagt haben, der Angriff sei Hitlers größter Fehler gewesen. „Russland ist ewig“ und könne nicht geschlagen werden. Doch es brauchte Unterstützung. Gegen die UdSSR war die geballte Schlagkraft Nazi-Deutschlands gerichtet. Daher stand die Frage im Raum, ob die britische Regierung eine Landeoperation an der französischen Küste unternehmen könnte, was die Auffassung der Sowjets von den Briten als ihren Verbündeten bestätigen würde. Das war die erste Anfrage der Sowjets von vielen nach einer zweiten Front im Westen, um den Druck der Deutschen von der Roten Armee zu nehmen.

Im Sommer 1941 war Großbritannien nicht in der Lage, eine solche Landung an der Küste Frankreichs durchzuführen. Stalin begriff dies und fragte Churchill dennoch, ob er britische Einheiten zur Unterstützung der Sowjets an die Front schicken würde. Churchill war entsetzt von der Idee. Nach der damaligen Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes würde die Rote Armee in vier bis sechs Wochen geschlagen werden. Sie haben sich geirrt, und zwar gründlich! Churchill selbst war hinsichtlich der Russen hin und her gerissen. Er konnte sich nicht entscheiden, ob sie nun Verbündete oder „Barbaren“ waren.

In dem Sommer schickte Großbritannien Nachschub in die Sowjetunion, Panzer und Kampfflugzeuge, aber nicht im großen Maßstab: 200 Jagdflugzeuge, einige hundert Panzer. Angesichts des sowjetischen Bedarfs war das ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Verluste der Roten Armee in den ersten sechs Monaten waren von unvorstellbarem Ausmaß: drei Millionen Soldaten – tot, verwundet, in Gefangenschaft, von den Nazis dem Hungertod überlassen. 177 Divisionen mussten aus den sowjetischen Kampfverbänden gestrichen werden. Die zivilen Opfer infolge des faschistischen Völkermords waren grauenvoll.

Offiziell behauptete Großbritannien, sein Bestes zur Unterstützung der Sow- jets zu leisten, doch nicht einmal die britische Öffentlichkeit glaubte daran. Der britische Botschafter in Moskau, Sir Stattford Cripps, beschuldigte seine eigene Regierung, die geamten Verluste der Roten Armee aufzubürden. Nach seiner Aussage glaubte die sowjetische Öffentlichkeit fest daran, dass Großbritannien „zum Kampf bis zum letzten Tropfen russischen Bluts“ fest entschlossen war.

Das US State Department war in dieser Hinsicht nicht besser. Gegenüber den Sowjets war es durch und durch feindlich gesonnen. Anders Präsident Franklin D. Roosevelt. Er arbeitete daran, den „bürokratischen“ antisow-jetischen Widerstand zu überwinden und erklärte im November 1941 die Ausweitung des Lend-Lease-Programms für die UdSSR.

Im Dezember 1941 änderte sich die Situation grundlegend. Die Rote Armee errang einen strategischen Sieg in der Schlacht um Moskau und setzte dadurch dem Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht ein Ende. Die Russland-Hasser unter den Offizieren des britischen Geheimdienstes dürften wohl verärgert gewesen sein, und das britische Außenministerium musste befürchten, dass die Rote Armee den Krieg ohne die Unterstützung der Briten für sich entscheiden könnte. Also wurde die Frage nach der zweiten Front in Frankreich wieder aktuell. Roosevelt erkannte ihre Bedeutung früh, Churchill aber zögerte und hielt ihn hin. Es war ein Skandal. Die Briten hatten kein einziges Bataillon in Europa. Stalin war über ihre Zögerlichkeit verärgert, und Churchill reiste im August 1942 nach Moskau, um ihn zu beschwichtigen. „Täglich verlieren wir 10 000 Soldaten“, so Stalin, „wollt ihr, dass wir den ganzen Krieg alleine austragen?“

Stalins Belehrung gefiel Churchill nicht, denn er wusste, dass dieser Recht hatte. Die Rote Armee war mit 80 Prozent der Wehrmachtsverbände in Europa konfrontiert. Während das britische Außenministerium Gewissensbisse verspürte, hatte Churchill andere Pläne. Er verfolgte eine Balkan-Strategie, wonach Italien angegriffen und als Kriegsgegner ausgeschaltet werden sollte, um dann wieder in den Balkan zurückzukehren und so der vorrückenden Roten Armee den Weg dorthin zu verwehren.

Im Februar 1943 besiegelte die Rote Armee mit ihrem Sieg in Stalingrad das Schicksal Nazi-Deutschlands. Bis dahin war Nordafrika der einzige Ort, an dem Briten und Amerikaner gegen deutsche Bodentruppen kämpften. 
Gerade einmal drei deutsche Divisionen waren dort stationiert. Verglichen mit der sowjetischen Front, an der 183 Divisionen der Wehrmacht aufmarschiert waren, war das also lediglich ein Nebenschauplatz.

Schließlich setzte Roosevelt dem Zaudern ein Ende. Auf der Teheran-Konferenz im November 1943 verbündete er sich mit Stalin, um die Einrichtung einer zweiten Front in Frankreich durchzusetzen. Churchill beharrte auf seiner Position, allerdings vergeblich. Die Vorbereitung einer Invasion in der Normandie erhielt den Vorrang. Als die westlichen Alliierten im Juni 1944 in der Normandie landeten, war das Schicksal des Faschismus in Europa längst besiegelt. Doch wenn Großbritannien und die Vereinigten Staaten sich in Frankreich dem Kampf nicht endlich angeschlossen hätten, hätten die Soldaten der Roten Armee ihre Füße in den Gewässern des Ärmelkanals gewaschen und Europa wäre von der Roten Armee allein befreit worden – das Einzige, worüber westliche Alliierte wirklich besorgt waren.

Michael Jabara Carley ist Professor für Geschichte an der Université de Montréal und Autor von Publikationen zur internationalen Politik des 20. Jahrhunderts und zu den Ursprüngen des Zweiten Weltkriegs.

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