70. Tag des Sieges: Ausdruck des neuen russischen Patriotismus

Bild: Konstantin Maler

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Eine so große Parade hat es zum Tag des Sieges noch nicht gegeben. Zusammen mit dem neuen Partner China feiert Moskau den Sieg über den Nationalsozialismus – und auch ein bisschen sich selbst. Russland ist von einem neuen Selbstverständnis ergriffen worden. Ob dieses zu einem neuen Beginn der Beziehungen zum Westen führt, bleibt abzuwarten.

Den 70. Tag des Sieges, der die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg markiert, feierte Russland in einem Ausmaß, das es bisher wohl nie gegeben hat. Die diesjährige Parade auf dem Roten Platz übertraf die 23 bisherigen bei weitem. Beteiligt waren 16 500 Soldaten, 194 Fahrzeuge und 143 Flugzeuge. In 25 weiteren russischen Städten wurden ebenfalls Militärparaden abgehalten. Insgesamt nahmen 85 000 Angehörige der Streitkräfte daran teil. Auch zehn Divisionen aus den GUS-Staaten und Ländern, die freundschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten, waren auf dem Roten Platz mit dabei – so auch aus China. Der Auftritt der chinesischen Soldaten war eine Premiere und Symbol für das zusammenwachsende Bündnis beider Länder in Opposition zu den Ländern des Westens.

 

Das Antlitz des „neuen russischen Patriotismus"

Die russische Führung maß den Feierlichkeiten zum Siegesjubiläum eine große politische Bedeutung bei. Angesichts der Verwerfungen mit dem Westen aufgrund der Ukraine-Krise sollte die Feier sicherlich auch das militärische Potential des Landes demonstrieren, so wie die Olympischen Spiele in Sotschi im vergangenen Jahr Russlands kulturelle und sportliche Möglichkeiten vorzeigen sollten. Vor allem aber ging es darum, den Rückhalt Wladimir Putins im russischen Volk zu verdeutlichen, der daraus erwächst, dass „er Russland die Krim zurückgab". Die mitschwingende Botschaft dieser Feier könnte also lauten: Was können die Sanktionen und die Wirtschaftskrise uns schon anhaben, wenn wir den Nationalsozialismus dank ungeheurer Opfer besiegt haben? Ein Interesse an der fulminanten, geradezu pompösen Siegesfeier war bei einer großen Mehrheit der russischen Bevölkerung definitiv vorhanden. In der gegenwärtigen Situation verspüren die Russen ein großes Bedürfnis nach vaterländischem Stolz, mag der eigentliche Anlass dazu auch 70 Jahre zurückliegen.

Inzwischen wurde die Siegesfeier zum festen Bestandteil der nationalen Selbstwahrnehmung Russlands, der russischen Identität. Das diesjährige Jubiläum kann zurecht als ein Sieg des „neuen russischen Patriotismus" aufgefasst werden, wobei neben dem Stolz auf die ruhmreiche Vergangenheit starke antiwestliche, vor allem antiamerikanische Positionen zu seinen integralen Aspekten geworden sind. Die Anziehungskraft des patriotischen Gedankens erreicht nach dessen Neuauflage eine besondere Qualität. Als „unsterbliches Regiment" marschierten landesweit auf den Straßen Menschen mit Bildern ihrer Angehörigen, die im Krieg gefallen oder zumindest an ihm beteiligt waren. Dazu kamen allein in Moskau nahezu eine halbe Million Menschen zusammen. In ganz Russland wurden bis zu 12 Millionen Teilnehmer gezählt. Für die allergrößte Mehrheit waren die Demonstrationen eine absolut freiwillige Sache, eine Herzensangelegenheit sozusagen. Dies steht im starken Kontrast zu vielen patriotische Kundgebungen unserer Zeit, deren große Teilnehmerzahlen oft auf ein falsch verstandenes Pflichtgefühl zurückzuführen sind.

 

Chinas Juniorpartner

Der Kreml lud 68 ausländische Staats- und Regierungschefs zu den Feierlichkeiten ein. Nahezu alle westlichen Politiker lehnten die Einladung zur Teilnahme ab. Staatsoberhäupter der Länder, die in der Anti-Hitler-Koalition

als wichtigste Verbündete der Sowjetunion agierten, bildeten da keine Ausnahme. Jede dieser Absagen wurde in Moskau durchaus mit gemischten Gefühlen aufgefasst. Da Putin und der chinesische Staatschef Xi Jinping auf der Tribüne nebeneinander saßen, überwogen allerdings die positiven Eindrücke. Obwohl China traditionell eine eigene geopolitische Strategie verfolgt, ist der Fokus auf die Freundschaft mit China für Moskau angesichts der aktuell schwierigen Beziehungen zum Westen wichtig, selbst wenn diese Freundschaft in einer für Russland ungewohnten Rolle des Juniorpartners begründet liegt. Früher verzichtete Moskau darauf, den Beitrag Chinas zum Sieg im Zweiten Weltkrieg besonders hervorzuheben. In diesem Jahr wird Putin wohl persönlich nach Peking reisen, um im September das 70. Jubiläum des endgültigen Kriegsendes zu begehen.

 

Merkel in Moskau

Der offizielle Besuch der Bundeskanzlerin Merkel in Moskau war das außenpolitische Ereignis, das während der Feier die größte Aufmerksamkeit auf sich zog. Natürlich lag es vor dem Hintergrund zahlreicher Absagen anderer westlicher Politiker nahe, den Besuch als einen Versuch zu werten, Möglichkeiten in den Beziehungen mit Moskau auszuloten. Die Kritiker des Besuchs sahen darin eine Geste der „Befriedung des Aggressors". Als einzige Politikerin mit regelmäßigen direkten Kontakten zu Putin bestimmt Merkel heute maßgeblich das Handeln der Europäischen Union. Zugleich ist

nicht zu verachten, dass für Deutschland wie auch für Merkel als Pastorentochter und FDJ-Aktivistin deutsche Reue für die Nazi-Verbrechen für das politische Leben weiterhin unentbehrlich bleibt. Deshalb war es wohl schwieriger, auf den Besuch in Moskau zu verzichten, als die Reise anzutreten. Allerdings schien Merkel durch ihren indirekten Hinweis auf die Möglichkeit einer Wiederaufnahme politischer und wirtschaftlicher Beziehungen dem russischen Präsidenten anzubieten, seine Position in der Ukraine-Krise zu „bereuen", um dafür belohnt zu werden.

Einen Durchbruch brachte das Treffen nicht. Doch gibt er Anlass zur Hoffnung, nicht gleich nach den Siegesfeierlichkeiten mit der Wiederaufnahme massiver Kampfhandlungen im Südosten der Ukraine rechnen zu müssen. Merkels Eingeständnis, dass nicht nur eine Seite der Nichteinhaltung des Minsker Abkommens beschuldigt werden dürfe, war angesichts der schleppenden Umsetzung der Vereinbarungen wichtig. Vorher galt einhellig, dass Moskau „schuld" sei, während von der Gegenseite, gemeint war wohl Kiew, nicht immer erwartet werden könne, das Abkommen in Gänze zu erfüllen. Bestätigt wurde von Merkel zudem die

Reihenfolge der im Abkommen festgelegten politischen Schritte: Zunächst müsse es Wahlen im Südosten der Ukraine geben, dann könne die Kontrolle über die Grenze zu Russland an Kiew übertragen werden.

Dass die EU und Deutschland der Ukraine-Krise überdrüssig geworden sind, heißt dies noch nicht, auch wenn einige Fragen an die Ukraine bezüglich der Nichteinhaltung des Minsker Abkommens und auch hinsichtlich der schleppenden Umsetzung innenpolitischer Reformen noch offen sind. Doch im Vergleich zur Merkels Rhetorik vor einem halben Jahr ist es bereits ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Ob der neue Tonfall und die versteckten Hinweise zu einem diplomatischen Durchbruch führen, wird sich in etwa einem Monat zeigen. Denn dann stellt sich die Frage nach einer Lockerung oder Verlängerung der im Juni 2014 eingeführten EU-Sanktionen gegen Russland.

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