Syrien-Einsatz: Mission mit Risiken

Valeri Kurtu
Längst geht es nicht mehr nur um die Regulierung der Syrien-Krise – auf der internationalen Agenda steht die Neugestaltung des gesamten Nahen Ostens. Zwischen den höchst unterschiedlichen Interessen der regionalen Akteure muss Russland die Balance wahren.

Terrorattacken in Paris, Bombenanschlag über Ägypten und russische Intervention in Syrien: In der regionalen Syrien-Krise steht plötzlich mehr auf dem Spiel. Immer mehr internationale – nicht regionale – Akteure schließen sich den Anstrengungen im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ an. Allein vergangene Woche haben auch Deutschland und Großbritannien entsprechende Entschlüsse gefasst, obwohl sie bis dahin keinerlei Interesse an einer Beteiligung signalisiert hatten. Was ist zu erwarten? Entsteht jetzt endlich die viel besagte Anti-Terror-Koalition?

Wohl kaum. Die Hauptursache dafür: Die Ziele und Aufgaben derjenigen, die sich an einer solchen Koalition beteiligen sollen, passen nicht zusammen. Eine paradoxe Situation. Bei all den enormen Unterschieden in der Herangehensweise der äußeren Akteure (USA, Frankreich, Russland, Großbritannien) haben sie alle ein auf ähnliche Weise definiertes Feindbild: den IS. Idealerweise müsste dieser vernichtet, mindestens aber gestoppt werden. Diese Aufgabe zu lösen, erfordert ein sehr aktives Zusammenspiel regionaler – innersyrischer wie insgesamt nahöstlicher – Player. Eigentlich müssten sie den Großteil der Kampfhandlungen auf sich nehmen. Doch genau an diesem Punkt wird deutlich, dass ihre Präferenzen ganz andere sind.

Ein Feind von vielen

Für die Türkei ist die größte Gefahr das kurdische Problem. Das wird als weitaus wichtiger wahrgenommen als die IS-Bedrohung. Saudi-Arabien treibt offensichtlich eine größere Angst vor einer iranischen (schiitischen) Expansion um als vor den Anhängern al-Baghdadis. Der Iran spielt in der Region ein komplexes Spiel, bei dem der IS nur eine Ebene darstellt. Und auch Syriens Präsident Baschar al-Assad hat ein reiches Sortiment an Gegnern – radikale Islamisten bilden davon nur einen Teil. Andere Länder in der Region versuchen krampfhaft ihre eigene Situation unter Kontrolle zu behalten, was sie zum ständigen Lavieren zwingt. Den IS begreifen sie dabei nicht immer als wichtigsten Feind.

Diese Sachlage schließt eine reale große Koalition praktisch aus – entwirft dafür eine für die äußeren Mächte unangenehme Perspektive. Alle verstehen und reden darüber, dass ohne eine erfolgreiche Bodenoffensive der IS nicht zu besiegen ist. Das Angebot, diese durchzuführen, richtet sich an die Menschen, die im Nahen Osten leben. Zumal alle in dieser Region die „Kolonialisten“ wegen Einmischung gewohnheitsmäßig verdammen. Wenn sie aber kämpfen werden, dann bestimmt nicht gegen den Terrorismus, sondern gegeneinander. Das darf man nicht zulassen. Eine Ausweitung der militärischen Präsenz wie für Russland so auch für die USA, für Frankreich und für andere könnte so zu einer Notwendigkeit werden. Dabei wissen alle, welche Folgen direkte Interventionen im Nahen Osten nach sich ziehen können.

Hierarchiefragen

Russlands Motive in der Syrien-Offensive sind vielschichtig. Die Gefahr eines unkontrollierbaren Auseinanderkriechens des Terrorismus ist sicherlich das zentrale. Eine andere Ebene sind die Beziehungen zur offiziellen syrischen Führung, einem langjährigen Partner. Im Sommer dieses Jahres wurde langsam klar, dass die Ressourcen des Regimes sich gen Ende neigen. Zwar war es weitaus stabiler, als im Westen 2011 angenommen, doch geht ein zermürbender Krieg nicht einfach spurlos vorüber. Assads Sturz wäre allerseits als eine große Niederlage Moskaus aufgefasst worden.

Eine Rolle spielten auch zweckdienliche Motive. Der Wunsch etwa, die Plattform für Gespräche mit dem Westen auszuweiten, welche sich in den vergangenen zwei Jahren nahezu ausschließlich um die Ukraine und die Minsker Abkommen drehten. Im Übrigen ist das russische Vorgehen in Syrien in einem größeren globalen Zusammenhang zu betrachten. Moskau hat nach dem Recht gegriffen, welches in den vorangegangenen 25 Jahren – seit der Operation „Desert Storm“ im Zweiten Golfkrieg – ein Monopol der Vereinigten Staaten gewesen war: nach dem Recht nämlich, Gewalt einzusetzen, um die rechte Weltordnung herzustellen, gemäß der Funktion des Weltgendarms. Russland ist in eine Sphäre vorgedrungen, in der Hierarchiefragen geklärt werden.

Diese „monopolare Welt“ setzte voraus, dass Kriege „im Namen des Friedens“ – also solche, die keinen eigenen, klaren und konkreten Zielen dienen – allein von den USA mit Unterstützung ihrer Verbündeten geführt werden. Mit dem Beginn seiner Militäroperation in Syrien hat Moskau die Kräfteverhältnisse und die Lösungsoptionen in einem der wichtigsten internationalen Konflikte verändert, ohne dass es Profit daraus schlagen kann. Doch dies ist das Prärogativ der höchsten militärisch-politischen Liga, die die Agenda diktieren kann.

Ein weiteres wichtiges Element: Sehr wahrscheinlich geht mit dem Syrien-Konflikt die Epoche des „humanitär-ideologischen“ Konzepts bei der Regulierung lokaler Konflikte zu Ende. Die zentrale Komponente des Diskurses um innerstaatliche Konflikte war bis vor Kurzem die Beschuldigung – der Verbrechen gegen das eigene Volk, der brutalen Niederschlagung von Protesten und so fort. Ein Machthaber mit derart unreiner Weste wurde als einer stigmatisiert, der seine „Legitimation eingebüßt“ hatte. Ein Dialog mit ihm wurde demnach unnötig, gar inakzeptabel. Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi mussten diesen Weg gehen, Baschar al-Assad sollte ihnen folgen. Doch im Augenblick, so scheint es, weicht das humanitäre Konzept einem realistischen Ansatz. Die schwarz-weiße Aufteilung in gute und böse Jungs führt in die Sackgasse: Man wird mit allen verhandeln müssen.

Ein Drahtseilakt

Russland muss zukünftig auf ausgefeilte Weise die Balance wahren. Erstens muss es seine geopolitische Präsenz in Syrien auch für die Zukunft absichern, unabhängig von dortigen Machtverhältnissen. Zweitens darf es die entstehenden Beziehungen zum Iran – einem auf lange Sicht wichtigen regionalen Partner – nicht abreißen lassen. Für Teheran ist der Erhalt des heutigen Regimes lebenswichtig. Die Führung des Landes nimmt nicht grundlos an, dass jeder Wechsel für die iranische Dominanz in Syrien fatal sein wird. Die syrische Epopöe ist nahezu das einzige Thema, welches diese Beziehung zementiert. Ansonsten beäugt Teheran Moskau mit Skepsis. Drittens darf Russland sich nicht in eine Weltmacht verwandeln, die die regionalen Interessen Teherans in gleichem Maße bedient, wie die USA etwa lange Zeit die Interessen der Saudis bedienten.

Doch die Eskalation und die Auswüchse der vergangenen Woche drängen einen weiteren trostlosen Schluss auf: Es geht längst nicht mehr um Syrien, sondern um die Zukunft der ganzen Region. Die Regulierung in Syrien ist ohne eine politische Neuordnung des Nahen Ostens unmöglich. Und dies ist eine Aufgabe von vielfach größerem Maßstab und ebenso größeren Risiken. Das heutige Russland aber scheut Risiken offenbar nicht.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“ und Forschungsprofessor an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics.

Syrien-Einsatz: Die Russen haben ein neues Feindbild

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