MEINUNG: Der Markt schafft es nicht allein

Jakow Mirkin (l.) und Sergej Romantschuk (r.).

Jakow Mirkin (l.) und Sergej Romantschuk (r.).

Pressebild; RBTH
Russlands Ökonomen suchen nach dem Ausweg aus der Krise. Ihre Vorschläge legen sie heute Präsident Putin vor. Vertreter des sogenannten Stolypin-Clubs, unterstützt von Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew, plädieren für eine gezielte Wachstumsförderung durch Zinssenkungen, eine lockere Geldpolitik und Konjunkturspritzen. Die Liberalen um Alexej Kudrin oder Zentralbankchefin Elwira Nabiullina wollen vor allem Strukturreformen sehen. RBTH gibt beiden Lagern die Möglichkeit, ihre Ideen darzulegen.

Teil 1: Ökonom Jakow Mirkin, Mitglied im Stolypin-Club

Bild: Dmitrij DiwinBild: Dmitrij Diwin

Welchen Weg sollen wir in Russland gehen? Wohl den Weg in eine offene, soziale Marktwirtschaft als Ergebnis einer auf einer deutlichen Erhöhung des Mehrwertes basierten Modernisierung, die eine Lebensqualität und -dauer gewährleistet wie in den zehn führenden Industrienationen der Welt. Gegenwärtig belegt Russland weltweit den 122. Platz bei der Lebenserwartung (WHO, 2013): 70 bis 71 Jahre – dafür sollten wir uns schämen! Die gesamte Wirtschaftspolitik hat sich der Vermehrung des Eigentums und der Einnahmen der Bevölkerung, der Mittelschicht, 
unterzuordnen. Gegenwärtig ist dem bei 
Weitem nicht so.

Von welcher Art Politik ist hier die Rede? Die Kreditzinsen sind konsequent, aber sehr ausgewogen zu senken. Niedrigere Steuern müssen gezielt das Wachstum, die Modernisierung stimulieren. Die Verwaltungshürden sind rigoros abzubauen. Dazu gehört auch eine vorsichtige quantitative Lockerung. Die nicht monetäre Inflation ist auf das Schärfste zu bekämpfen. Gleichzeitig könnte eingemäßigt unterbewerteter Währungskurs Wachstum und Technologieexport 
stimulieren. Darüber hinaus braucht Russland dringend eine weitere Privatisierung – aber nicht im Interesse des Großkapitals, 
sondern vor allem, um die Mittelklasse zu stärken. Ziel ist ein „Russland der Eigenheimbesitzer“, die Familien müssen Grund und Boden zum Eigenheimbau und für ihre eigene Wirtschaft erwerben können (der 
Staat verfügt gegenwärtig über wesentlich mehr Grundbesitz als zu Zarenzeiten!). Der Staat dagegen muss vorwiegend in die 
soziale Infrastruktur investieren – nur so lässt sich die Entvölkerung von Russlands Kernland stoppen.

Von einer Kultur der Bestrafung müssen wir uns allmählich zu einer Kultur der Belohnung entwickeln, die über Tausende kleine Stimuli verfügt und in der es vor Ideen nur so brodelt.

Man kann noch weitere 25 Jahre warten und darauf hoffen, dass die Zinzsätze sich normalisieren und die Inflation sich eingepegelt haben wird. Die russische Wirtschaft ist nur zur Hälfte eine Marktwirtschaft, sie ist deformiert, geprägt durch Oligopole und eine Überkonzentration des Eigentums, mit einer Staatsquote von 50 bis 60 Prozent, und sie leidet an einem Übermaß an Regularien. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ funktioniert hier kaum. Sie ist ein Kranker, dem eine Behandlung durch den Hausarzt nicht mehr hilft. Hier bedarf es einer operativen Behandlung mit anschließenden Reha-Maßnahmen, um dem Patienten wieder auf die Beine zu helfen.

Kurz gesagt: Es bedarf einer Einmischung, und auch wenn dies schrecklich klingen 
mag: einer administrativen Einmischung, per Hand, sozusagen mit dem Skalpell, um „manuell“ das zu korrigieren, wozu der Markt, der formal zwar existiert, praktisch jedoch nicht in der Lage ist. Ein Schritt zurück, um zwei Schritte vorwärts zu kommen – hin zur Liberalisierung, so wie das in allen Ländern der Fall war, die ein Wirtschaftswunder erlebt haben.

Ja, das ist eine Steuerung per Hand. Eine Justierung in Richtung eines „Finanz-Turbos“, quasi ein chirurgischer Eingriff aus Verzweiflung, da der Markt selbst dazu nicht fähig ist. Aber das Marktprinzip darf dabei nicht verletzt werden. Es muss sehr vorsichtig vorgegangen werden, häufig auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um die Inflationserwartungen nicht anzuheizen. Ganz im Gegenteil: Es müssen Hunderte Instrumente geschaffen werden, die auf ein einziges Ziel ausgerichtet sind: Wachstum, Modernisierung, Steigerung der Lebensqualität. Ganz vorsichtig muss daraus ein wirt
schaftspolitisches Geflecht geknüpft werden, um die Risiken zu senken, dem Unternehmertum größere Freiheiten zu sichern und die Zentrifugalkraft des Kapitals in Zentripetalkraft zu verwandeln. Mehr als zwanzig Jahre Nettokapitalausfuhr aus Russland (1990 bis 2016, außer 2006 bis 2007) sind die falsche Entwicklung!

So entfernt ein Chirurg ein Geschwür auch manuell, um den Körper zu heilen und den Patienten sich dann wieder ungestört entwickeln zu lassen. Diese Entwicklung haben weltweit Dutzende Länder durchgemacht.


*Der Autor leitet die Abteilung für internationale Kapitalmärkte am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften und ist Mitglied im Stolypin-Club.

Teil 2. Ökonom und Liberaler Sergej Romantschuk

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