12. Juni: Wie die Souveränitätserklärung Russland rettete

Die Menschen feiern den Tag Russlands. Foto: AP

Die Menschen feiern den Tag Russlands. Foto: AP

Sergej Schachraj, einer der Autoren der russischen Verfassung, erzählt Russland HEUTE, was den Zerfall der UdSSR in Wirklichkeit verursachte, und was Russland davon abhielt, sich noch weiter aufzuspalten.

Russlands Souveränitätserklärung am 12. Juni 1990

Während der unruhigen Jahre des sowjetischen Zusammenbruchs unterstützte der Parlamentsabgeordnete Sergej Schachraj die Souveränitätserklärung, die von den anderen Abgeordneten am 12. Juni 1990 verabschiedet wurde. Sie wurde später von vielen als Russlands Erklärung über die „Unabhängigkeit" von der Sowjetunion interpretiert. Mittlerweile als „Tag Russlands" bezeichnet, wird der 12. Juni seitdem als Russlands Nationalfeiertag begangen. Schachraj war auch drei Jahre später an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt. Am Vorabend des 23. Jahrestags der Souveränitätserklärung sprach Russland HEUTE mit Schachraj darüber, was den Zusammenbruch des größten Landes der Welt verursachte.

 

Russland HEUTE : Welche Ereignisse führten zu Russlands Souveränitätserklärung am 12. Juni 1990?

Sergej Schachraj: Die sowjetische Führung begriff damals, dass der Artikel 73 der sowjetischen Verfassung, die es jedem Föderationssubjekt gestattete, sich von der Union zu trennen, seit Jahrzehnten in einem Dornröschenschlaf zugebracht hatte und plötzlich begann, für verschiedene Sowjetrepubliken attraktiv zu werden. Das ließ Moskau natürlich nervös werden. Dann kam es zu den Ereignissen im Baltikum, in der Ukraine und in anderen sowjetischen Regionen. Dieser Verfassungsartikel war eine Zeitbombe, die drohte, in die Luft zu gehen. Gorbatschow reagierte darauf mit einer Umstrukturierung des föderalen Systems der UdSSR, der entsprechende Geheimplan wurde nach Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle des Politbüros im Jahr 1992 bekannt.

Die Sowjetunion bestand aus 15 Unionsrepubliken und weiteren 20 autonomen ethnischen Gebieten, die innerhalb dieser Republiken gelegen waren und deren Rechtsprechung unterlagen. Der Plan sah die Aufwertung dieser autonomen Gebiete zu Unionsrepubliken vor – als Belohnung dafür, dass diese eine Streichung des Artikels 73 aus der Verfassung unterstützten. Wenn der Plan umgesetzt worden wäre, hätten wir heute eine Sowjetunion, die aus 35 statt 15 Republiken bestände, von denen aber keine mehr die Möglichkeit hätte, aus dem Unionsverbund legal auszutreten.

Es lag schon ein tieferer Sinn hinter diesem Plan, aber 16 der 20 autonomen Gebiete und Republiken befanden sich auf dem Territorium der heutigen Russischen Föderation. Sie machten 51 Prozent des Staatsgebietes aus. Auf ihrem Territorium befindet sich ein beträchtlicher Anteil der Bodenschätze des Landes. Ohne diese autonomen Gebiete würde Russland einem Stück Schweizer Käse ähneln, wobei die Löcher größer wären als der Käse – von der rund 20 Millionen Menschen geringeren Bevölkerung einmal ganz abgesehen. Die Erklärung war also eine Reaktion des russischen Parlaments auf die Initiative der sowjetischen Regierung, die Hälfte des Hoheitsgebiets abspalten zu lassen.

Wie war die Atmosphäre, während die Erklärung das Parlament passierte? Fürchteten Sie denn keine Anschuldigung wegen Hochverrats?

Verrat weswegen? Die Abgeordneten ließen sich von ihrem Patriotismus leiten. Ihre Logik war: Indem wir Russland retten, retten wir die

Sowjetunion. Weil ohne die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik keine UdSSR möglich war. Russland hätte größer oder kleiner werden, es hätte zu Abspaltungen und Wiederintegration kommen können, aber seine führende Rolle für das gesamte Staatsgebiet war von immenser Bedeutung.

Interessant hierbei ist, dass infolge der Abschaffung einer Quote, die verlangte, dass zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten Mitglieder der kommunistischen Partei der Sowjetunion zu sein haben, die Zahl der gewählten Vertreter aus der Kommunistischen Partei innerhalb des russischen Parlaments sogar noch zugenommen hatte. Das bedeutet, dass diejenigen, die diese Erklärung verabschiedeten, kein Haufen antisowjetischer Extremisten waren, sondern loyale Gefolgsleute der Regierung – nichtsdestoweniger passierte die Erklärung das Parlament fast einstimmig.

In dem Dokument steht kein einziges Mal die Formulierung „Unabhängigkeit". Im Gegenteil – es stellt ganz explizit fest, dass Russland ein Teil der Sowjetunion ist. Es heißt dort: „Die RSFSR respektiert die souveränen Rechte der Unionsrepubliken und der UdSSR und erkennt diese an." Im Anschluss an die Erklärung und trotz der persönlichen Feindseligkeit gegenüber dem sowjetischen Führer Michail Gorbatschow unterzeichnete Boris Jelzin als Präsident Russlands den Unionsvertrag am 18. August 1991.

Darüber hinaus enthielt die Erklärung den Punkt der Gewaltenteilung zwischen der sowjetischen und der russischen Regierung. Im Einzelnen heißt es, dass Russlands territoriale Integrität ohne Mitwirkung seiner eigenen gesetzgebenden Körperschaft nicht angefochten werden kann.

Der ganze Rummel darüber, dass dies eine Art Unabhängigkeitserklärung sei, ist somit nichts weiter als ein Mythos. Es war weder der Anfang noch das Ende der Etablierung der russischen Souveränität. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum es jetzt „Tag Russlands" heißt; die meisten Menschen haben die Erklärung nicht einmal gelesen, und laut aktuellen Umfragen wissen noch viel weniger Menschen, was der Inhalt eigentlich bedeutet. Warum Unabhängigkeit? Von wem? Es würde mehr Sinn ergeben, die russische Souveränität am 12. Dezember zu feiern, an dem Tag, an dem unsere Verfassung angenommen wurde.

Welche Auswirkung wird die Souveränitätserklärung auf die Zukunft haben?

Erst später, als Jelzin dem Problem einer sich auflösenden Russischen Föderation gegenüberstand, griff er auf die sowjetische Erfahrung zurück,

als er die Föderationssubjekte aufforderte, „so viel Souveränität zu nehmen, wie sie schlucken konnten". Das war seine Art, die Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb Russlands bei völligem Fehlen wirksamer wirtschaftlicher oder militärischer Optionen zu bekämpfen.

Während der Unterzeichnung des Unionsvertrags im August 1991 setzten Russlands autonome Gebiete ihre Unterschrift unter die Boris Jelzins – das war der entscheidende Punkt. Sie erkannten an, dass sie ein Teil Russlands sind, und erhielten im Austausch während der Verhandlungen über die Russische Föderation im März 1992 den Föderalstatus.

Der wahre Grund für den Zerfall der Sowjetunion

Sergej Schachraj. Foto: RIA Novosti

Was war der wahre Grund für den Zerfall der Sowjetunion?

Ich bin erschüttert, dass von Historikern eine Tatsache praktisch vernachlässigt wird: Warum wurde innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik eine kommunistische Partei gegründet? Alle sowjetischen Republiken hatten ihre eigenen kommunistischen Parteien – außer Russland, weil die RSFSR und die Sowjetunion untrennbar miteinander verbunden waren. Das hatten einst Lenin und Stalin so durchgesetzt.

Als Iwan Poloskow and Gennadij Sjuganow politisch gegen Gorbatschow ankämpften, indem sie aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion austraten und ihre eigene Partei innerhalb der RSFSR gründeten, ging ein gewaltiger Riss durch das Land. Dieser vergrößerte sich noch nach dem Putschversuch im August 1991. Damals war Gorbatschow sehr über die Verschwörer verärgert und gab bekannt, dass er aus der Kommunistische Partei austreten werde. Dann forderte er alle ehrlichen Kommunisten auf, dasselbe zu tun. Aber es gab kein Auffangbecken für sie.

Die Rolle der Partei als die „lenkende und leitende Kraft der sowjetischen Gesellschaft" war im Artikel 6 der Verfassung festgeschrieben. Es wurde damals diskutiert, diesen Artikel abzuschaffen. Aber damals bedeutete eine Schwächung der Kommunistischen Partei eine Schwächung des Landes. Wenn Sie an die Massendemonstrationen zurückdenken, zu denen es in den in den letzten Jahren überall in der Sowjetunion gekommen war, werden Sie sich erinnern, dass viele Leute mit der widersprüchlichen Losung „Alle Macht den Sowjets" in der Hand demonstrierten („Sowjets" bedeutet im Russischen so viel wie „Rat" oder „Komitee zur Interessenvertretung", Anm. d. Redaktion). Sie meinten damit, dass die Macht weg von der Kommunistischen Partei hin zu den Menschen übergeben werden sollte.

 Welche realistische Alternative gab es?

Wenn die Partei imstande gewesen wäre, sich zu reformieren, hätten wir – mehr oder weniger – das chinesische Entwicklungsmodell bekommen. Was meine ich mit „Reform"? Es gab eine demokratische Fraktion innerhalb der Kommunistischen Partei; sie hätte sich in Splittergruppen auflösen können, hätte diskutieren und sich wieder zusammenraufen können. Das ist etwas, wozu große Parteiorganisationen bereit sein müssen und wovor sie keine Angst haben sollten. Aber nachdem er den Kampf um die Macht innerhalb der Partei verloren hatte, setzte Gorbatschow ihn auf der Ebene der Regierungsbildung fort.

Hätte es Russlands Souveränitätserklärung nicht gegeben, wäre der Zerfall der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik fortgeschritten, und wir hätten ein Szenario wie auf dem Balkan gehabt. Zuerst wären die sowjetischen Republiken aus der Union ausgetreten, dann die autonomen Gebiete. So half die Erklärung dabei, Zeit zu gewinnen und die autonomen Gebiete davon abzuhalten, Russland zu verlassen. Es zeigte sich, dass die Fragen der staatlichen Gewalt und des Eigentums innerhalb des Systems gelöst werden konnten.

 Könnte heutzutage in Russland etwas Ähnliches geschehen?

Der Zerfallsprozess setzte sich bis zum 31. März 1992, als die Föderationsvereinbarung getroffen wurde, fort. Dann gab es das Machtvakuum und Chaos bis zum Dezember 1993, als die neue russische Verfassung angenommen wurde. Zwischen diesen beiden Daten wurden

die Verfassungen von allen autonomen Gebieten Russlands verabschiedet – während dieser Zeit hätte der Zerfall tatsächlich erfolgen können.

Ich hatte die Ehre, in der Kammer der Regionen, einer von fünf Kammern des Verfassungskonvents, den Vorsitz zu führen. Es gab damals viele Auseinandersetzungen, und Vertreter verschiedener Gebiete verließen das Gremium. Meine und Sergej Alexejews (Mitverfasser der russischen Verfassung, Anm. d. Redaktion) Vorstellung sah eine Klausel für den Austritt aus der Russischen Föderation nicht vor. Wir hatten auf schmerzliche Weise von der Sowjetunion gelernt, dass dies eine schlechte Idee war. Unser Modell enthielt kein Konzept von souveränen Staaten innerhalb Russlands. Und wir verwarfen die Verwendung von Nationalitäten als Grundlage zur Bildung von Föderationssubjekten – die Geschichte hat uns gezeigt, dass alle entlang nationaler Grenzen geschaffenen Föderationen zum Scheitern verurteilt sind. Das zeigt die jüngste Geschichte: die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die UdSSR. Die autonomen Gebiete wurden auf diese Weise aufgelöst.

Dank meiner Kollegen und mir sind keine dieser Grundsätze in die endgültige Fassung der Verfassung eingeflossen.

 Aber wie sieht es mit solchen russischen Territorien wie Tschetschenien und Tatarstan aus, in denen vor allem eine große Zahl Menschen einer einzelnen Ethnie leben?

Das sind nur Bezeichnungen. Es sind genauso Föderationssubjekte nach denselben nationalen Gesetzen wie andere Gebiete auch. Unsere Verfassung erlaubt die Vergrößerung deren Territorien und deren Zusammenschluss – wie Sie wissen, wurde im letzten Jahrzehnt die Zahl der Föderationsgebiete von 89 auf 83 gekürzt.

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