Moskau-Berlin: Expertenstreit zur Ukraine

Foto: Konstantin Sawraschin/Rossijskaja Gaseta

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Die neue Regierung in der Ukraine sei „illegitim“ und durch einen Putsch zustande gekommen, so die russische Position. Nein, sie sei vom Parlament und damit vom Volk gewählt, so der deutsche Konter.

Zur Lage in der Ukraine diskutierten am Mittwoch jeweils drei Russland/Ukraine-Experten in einer Videoschaltung zwischen Berlin und Moskau. Zu dem Gespräch eingeladen hatte die russische Nachrichtenagentur „RIA Novosti". In Berlin zugeschaltet waren Dr. Julia Langbein von der Freien Universität (FU Berlin), Dr. Ewald Böhlke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Dr. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik. In Moskau saßen Dr. Tamara Gusenkova vom Institut für strategische Forschungen, Dr. Wladislaw Below vom Europa-Institut und Alexej Muchin vom Zentrum für politische Information.

Nach russischer Lesart fand in der Ukraine ein „verfassungsfeindlicher Putsch" gegen den legitimen Präsidenten und die Regierung statt. Die neue Regierung sei daher „illegitim" und von den „Rechten, ja den Nazis auf der Straße" gewählt worden. Die Bewohner der Krim und die Mehrheit der Bewohner im Osten der Ukraine würden dieses Regime nicht anerkennen, eben weil es „durch einen Putsch" zustande gekommen sei. Die Menschen dort seien nicht bereit, sich der neuen Regierung zu „unterwerfen".

Dr. Ewald Böhlke hielt sofort dagegen und erklärte in Kürze die westliche Position: Die neue Regierung sei vom Parlament und dieses vom Volk gewählt worden. Daher sei die Regierung legitim und rechtens im Amt. Auf beiden Seiten würde jetzt eine Korrektur der „Fehlsichten" gebraucht. Das müsse in einem Diskussionsprozess geschehen. „Wir im Westen haben uns noch keine einheitliche Meinung über das Geschehen gebildet. Es fehlen gesicherte Erkenntnisse und Antworten auf die Fragen, ob zum Beispiel die Bedrohungsszenarien echt sind, ob das, was wir lesen, wirklich so geschieht beziehungsweise geschehen ist", erklärte Böhlke. Er sei deshalb „sehr begeistert von dem Vorschlag, eine OSZE-Beobachtergruppe nach Kiew zu schicken". Vehement ging er dagegen vor, dass es zugelassen werden könne, „dass die Straße und andere private Mächte" den Schutz von Minderheiten übernehmen. Um dies zu verhindern, müsse es entsprechende staatliche Strukturen geben. Diese müssten in der Ukraine schnellstmöglich wiederhergestellt werden. Böhlke wendete sich an Russland mit der Bitte, die Konflikte gemeinsam mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu entschärfen.

Dr. Below in Moskau warnte davor, dass „wir es in der Ukraine auch mit nationalistischen Ideen zu tun haben". Zudem beobachte er einen „Krieg der Medien". Das sei ein virtueller Krieg. Vor allem die USA wollten über die Massenmedien Druck ausüben. Washington ginge dabei ziemlich dreist vor

– es grenze schon fast an einer Beleidigung, was „wir uns da alles anhören müssen". Einen realen Krieg hingegen gebe es nicht. Ziel der russischen Politik sei es, alle zur Besinnung zu bringen. Und das bedeute, dass alles getan werden müsse, um die „Aggression des Westens" abzuwehren. Bundeskanzlerin Merkel habe bereits einen etwas anderen Ton gefunden.

Dr. Tamara Gusenkova verblüffte zunächst die deutschen Diskussionspartner in Berlin mit der Bemerkung, dass es bereits Flüchtlingsströme an den östlichen Grenzen zu Russland gebe. Die Berichterstattung in den Medien sei schlichtweg russlandfeindlich, mahnte sie. Man müsse aus diesen „medialen Müllhalden" den Kern herausholen und dann einen neuen Weg finden zur Lösung der Krise. „Wenn wir sehen, was die USA machen, dann frage ich mich, ob der US-amerikanische Außenminister Kerry auf dem Majdan in Kiew ein eigenes Zelt aufschlagen will, um hier die ukrainischen Demonstranten zu empfangen", wandte sich Gusenkova an die Runde. Die russische Politikwissenschaftlerin erinnerte daran, dass es nicht „Russland war, das die Majdan-Proteste organisiert hat, sondern wir haben im Gegenteil bis vor Kurzem noch geschwiegen". Alles, „was jetzt passiert, ist nur eine Reaktion auf das, was vorher schon passiert war". Da nun jedoch alle Schuld in dieser Entwicklung auf Russland geschoben werde, müssten alle gemeinsam beraten, was zu tun sei. Verständnis füreinander sei das Gebot der Stunde, sonst würden die Emotionen und nicht der Verstand die Oberhand gewinnen.

Dr. Julia Langbein von der Freien Universität Berlin verwies darauf, dass es offenbar verschiedene Sichtweisen gebe. „Russland nimmt die Majdan-Proteste völlig anders wahr, als es wirklich war und wie wir es sehen. Russland sollte anerkennen, dass die neue Regierung nicht illegitim ist, sondern vom Parlament gewählt wurde. Und wir alle sollten darauf

drängen, dass die paramilitärischen Milizen entwaffnet werden."

Dr. Wolfgang Richter fügte hinzu: „Wir befinden uns in Europa in der schwersten Krise seit 1990. Russland will die Integrität der Ukraine beeinträchtigen und Russland will die Krim besetzen. Aber wo kam es überhaupt zu Angriffen auf die russische Minderheit auf der Krim und in der Ukraine? Das wird ja als Vorwand benannt. Nirgendwo gibt es die Fluchtbewegungen, von denen in Moskau eben gesprochen wurde. Wir fordern daher Transparenz und Gespräche." Richter empfahl die Bildung einer Kontaktgruppe, wie sie auch in Jugoslawien funktioniert und den Krieg dort zum Ende gebracht habe. Gebraucht werde ein Dialog, der zur politischen Lösung dieses Konflikts führt. „Kurz gesagt heißt dies: Wo keine Übergriffe, da auch kein Recht auf Übergriffe durch eine andere Macht. Es sollte daher in Kiew schnell eine Regierung gebildet werden, an der alle beteiligt sind. Danach sollten Wahlen schnell und überall, auch auf der Krim, durchgeführt werden."

Daraufhin fragte Dr. Tamara Gusenkova, ob denn der Westen bereit sei, das Ergebnis des Referendums auf der Krim zu akzeptieren? Dort soll die Bevölkerung am 30. März, also vor den Wahlen in der Ukraine im Mai, über mehr Autonomie abstimmen. Dr. Böhlke antwortete nach Moskau: „Dieses Referendum ist in der Verfassung nicht vorgesehen."

Auf diese Bemerkung hin kam es zum hitzigen Schlagabtausch zwischen Berlin und Moskau. „Der Putsch gegen einen frei gewählten Präsidenten ist auch nicht in der Verfassung vorgesehen. Und der Westen applaudiert.

Was also ist mit der Abstimmung auf der Krim? Werden Sie das Ergebnis akzeptieren oder nicht?", insistierte Dr. Below. „Jetzt haben wir den politischen Zusammenbruch in der Ukraine, der wirtschaftliche folgt bereits, wer zahlt den Rentnern eigentlich jetzt ihre Rente? Na klar, denkt man sich im Westen, die Russen werden das machen. Was passiert, wenn es zu einer Hungersnot kommt?", spitzte Dr. Below seine Thesen weiter zu. Die Folge eines jeden Putsches sei die Gewalt der Straße. Genau das wolle Russland verhindern.

Dr. Richter wandte ein: „Verwechseln Sie bitte nicht die Wirklichkeit mit Befürchtungen. Unsere Politik muss darauf abzielen, dass pan-europäische Sicherheitsdenken zu verstärken und nicht wieder in Nationalismen wie im 19. Jahrhundert zu verfallen. Das aber ist momentan der Fall." Dem pflichtete Dr. Böhlke bei: „Wir diskutieren in einem veralteten Denken. Wir müssen einander besser zuhören."

Das wiederum erzürnte Dr. Alexej Muchin, der die Ansicht vertrat, dass die Ukraine zusammengebrochen sei und von den Rohstoffen Russlands abhänge. Präsident Putin habe erkannt, dass es richtig sei, besser früher einzugreifen als zu spät. Der Westen könne und wolle nicht verstehen, dass die Ukraine und Russland durch die gemeinsame slawische Seele verbunden seien. „Das aber ist die Zielscheibe des Informations-Krieges, der um uns tobt."

In Anbetracht der sehr unterschiedlichen Sichtweisen einigte man sich darauf, noch einige dieser Videokonferenzen zu führen. Dies sei, so der einzige Konsens aller Beteiligten, auch dringend nötig.

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