„Helden sterben nicht“: Menschen in Moskau trauern um Boris Nemzow

Zehntausende kamen zu einem Trauermarsch in Moskau zusammen. Foto: AP

Zehntausende kamen zu einem Trauermarsch in Moskau zusammen. Foto: AP

Am Sonntag kamen Zehntausende Menschen zu einem Trauermarsch für den ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow zusammen. Viele Teilnehmer zeigten sich tief betroffen und schürten Hoffnung für ein Erstarken der Opposition. Experten vermuten hingegen, dass die Opposition durch den Verlust Nemzows deutlich geschwächt sei.

Am Sonntag fand im Zentrum Moskaus ein Trauermarsch zu Ehren des am Freitag ermordeten Oppositionsführers und ehemaligen Vize-Ministerpräsidenten Boris Nemzow statt. Der Mord hatte die Pläne der Opposition radikal geändert: Der für den Sonntag eigentlich angesetzte Anti-Krisen-Marsch „Frühling", der in Marjino am Stadtrand stattfinden sollte, wurde kurzfristig abgesagt und stattdessen eine Trauerveranstaltung im Zentrum der Stadt organisiert. Nach Angaben der Polizei versammelten sich 16 500 Menschen, nach Schätzungen der Veranstalter waren es mindestens 70 000.

 

„Die Tragödie Nemzows ist auch meine Tragödie"

Bereits vor Beginn des Marsches bildete sich am Blumenkiosk in der Nähe des Smolensk-Platzes eine lange Schlange. Auf dem Platz selbst wurden zahlreiche Metalldetektoren aufgestellt, am Einlass gab es sorgfältige Kontrollen. Gleichzeitig war die Polizei während des Marsches kaum sichtbar. Es war keine politische Veranstaltung. Stattdessen bewegten sich die Menschen langsam und in völliger Stille. Über den Köpfen trugen sie russische Flaggen mit Trauerbändern und Plakate mit Parolen wie „Er starb für die Zukunft Russlands", „Sie fürchteten dich, Boris", „Propaganda tötet" und „Ich habe keine Angst". Auf dem Spruchband an der Spitze des Trauermarsches war zu lesen: „Helden sterben nicht".

„Mich trifft sein Tod sehr", sagt die Rentnerin Jewgenija Ipatowa. „Russland verliert seine besten Söhne. Er war ein großer Wissenschaftler, beschloss jedoch, sich dem Volk zu widmen. Das Volk aber hat ihn nicht verstanden." Nemzow war Verfasser von über 60 wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Physik.

„Ich will in einem freien Land leben; ich will nicht, dass man auf uns schießt, Anschläge auf uns verübt. Ich will öffentlich das sagen können, was mir gefällt und was nicht. Deshalb ist die Tragödie Nemzows auch meine eigene Tragödie", sagt Wiktor Artamonow, der seit 1992 mit Boris Nemzow zusammengearbeitet hatte.

 

Spekulationen um die Tat

Die Menge hat zwei Vermutungen, wer Nemzow ermordet haben könnte. Demnach könnte jemand aus dem Dunstkreis der Politik für den Mord verantwortlich sein oder eine dritte Kraft, die eine Spaltung des Landes erreichen wolle. Die Anhänger der ersten Version sind deutlich in der Mehrheit. Alle stimmen aber darin überein, dass es ein Auftragsmord gewesen sei.

„Boris Nemzow war für unsere Politiker sehr ungemütlich. Er schaukelte das Boot auf, indem er die Bürger zur Beteiligung aufforderte. Er deckte Systeme der Korruption auf, bereitete einen Bericht über die direkte russische Beteiligung am Konflikt mit der Ukraine vor. Für den Mord sind sicher keine Randgruppen verantwortlich", denkt etwa die Unternehmerin Ljudmila Koch.

„Irgendjemandem in unseren Machtzirkeln gefällt es gar nicht, dass Putin in der Ukraine-Frage ein wenig auf die Bremse getreten hat. Der Mord wurde in Auftrag gegeben, um keine weitere Regulierung zuzulassen", spekuliert der

56-jährige Witalij Gorskij. Der Oppositionelle Artamonow ist mit dieser Ansicht einverstanden: „Ich bin sicher, dass so ein dreister Mord, vor den Mauern des Kremls, für Putin ein großes Problem darstellt. Das spricht dafür, dass jemand politische Prozesse manipulieren will."

Plötzlich gibt es einzelne Schreie in der Menge: „Russland ohne Putin". „Schreien Sie nicht mit, das ist eine Provokation!", antworten andere. Die Schreienden sind irgendwo in den ersten Reihen des Zugs, wo die Oppositionsaktivisten und Michail Kasjanow laufen. Dann aber gibt es eine Schweigeminute und der Zug setzt sich in Richtung der Brücke in Bewegung, an der er offiziell endet. Die Oppositionellen nutzen die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Ilja Jaschin, ein enger Freund und Mitstreiter Nemzows, erklärt, wie die Opposition selbst diesen Mord auffasst: „Für die russische Gesellschaft ist der Mord an Nemzow ein bedeutendes Ereignis, ein Punkt, an dem eine Umkehr unmöglich geworden ist." Er hoffe, dass die Demokraten sich vereinigen werden und „dass dieser Tod die Oppositionsführer, die bisher nicht einmal miteinander gesprochen haben, zusammenbringen wird".

 

Neue Hoffnung für eine homogene Opposition?

Experten geben sich in Bezug auf eine Konsolidierung der Opposition skeptisch. Der Vize-Direktor des kremlnahen Instituts für Sozialwirtschaftliche und Politische Studien Alexandr Poschewalow denkt, dass Nemzow die „inneren Konflikte in der heterogenen Bewegung ausgeglichen hat und eine Strategie der Opposition aufbaute". Er erinnert

daran, dass es Nemzow gewesen sei, der Ende 2014 die gesamte Opposition zur Bildung einer Koalition „Für eine europäische Wahl" aufgerufen hatte. „Die Bedeutung Alexej Nawalnys in der Oppositionsbewegung wird nun weiter steigen. Er und seine engsten Mitstreiter werden versuchen, die Situation für sich auszunutzen, und das kann zu neuen inneren Konflikten in der Opposition führen", fügt Poschewalow hinzu.

„Unsere Opposition kann sich nur durch solch traurige Ereignisse konsolidieren", bedauert Konstantin Kalatschew, Leiter einer unabhängigen russischen Gruppe politischer Experten, der darin ein großes Problem sieht. Die Opposition sei in ihrer Organisation und der moralischen Führung sehr schwach. „Man kann nicht erwarten, dass ein Kind einen Monat nach der Zeugung geboren wird – in Russland kann eine neue Opposition entstehen, aber nur, wenn eine wirklich schwere Wirtschaftskrise im Land entsteht. Und das wird keine Opposition sein, die ihr Programm auf sozialwirtschaftliche Überlegungen gründet", glaubt Kalatschew.

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