Nemzow-Fall: Russische Medien verdichten den Nebel

Russische Medien überschlagen sich mit Meldungen rund um den Nemzow-Mord. Foto: Kirill Kalinnikow/RIA Novosti

Russische Medien überschlagen sich mit Meldungen rund um den Nemzow-Mord. Foto: Kirill Kalinnikow/RIA Novosti

Nahezu alles, was über die Ermittlungen im Mordfall Boris Nemzow bekannt ist, stammt aus anonymen Quellen. Jedoch entsprechen nicht alle Informationen der Wahrheit, manche könnten absichtlich gestreut worden sein. Die Suche nach dem Drahtzieher geht indes weiter.

Auch einen Monat nach dem Mord am ehemaligen russischen Vize-Ministerpräsidenten und Oppositionellen Boris Nemzow gibt es kaum plausible Informationen über den Stand der Ermittlungen. Während sich die Ermittlungsleiter bedeckt zum aktuellen Sachverhalt zeigen, veröffentlichen die Medien regelmäßig neue Informationen aus „Quellen, die den Ermittlungsbehörden nahestehen".

 

Ein neuer alter Zeuge

Wie bereits berichtet, soll die ursprüngliche Anklage wegen Auftragsmordes angeblich in einen Mord aus politischem, nationalem oder religiösem Hass umgeändert worden sein. Dem widersprachen allerdings die Rechtsanwälte der Angeklagten. Diese teilten mit, nichts von einer Änderung der Anklage zu wissen. Auch Wadim Prochorow, Verteidiger der Familie Nemzow, bestätigte gegenüber RBTH, dass die Anklage nicht verändert worden sei.

Am Freitag berichtete die Zeitung „Kommersant", dass Anna Durizkaja, die den Politiker am Mordabend begleitete, nicht die einzige Zeugin der Straftat gewesen sei. Der zweite Zeuge soll der Manager Jewgeni gewesen sein, dessen vollständigen Namen die Zeitung nicht abdruckte. Da er laut Musik gehört und auf sein Smartphone geschaut hätte, habe dieser den Mord weder gesehen noch gehört. Als er schließlich aufgeblickt habe, will er den davonlaufenden Mörder, einen „mittelgroßen Mann von schlankem Körperbau", gesehen haben. Weiter heißt es, dass diese Beschreibung nicht zu dem „später des Mordes angeklagten Dadajew, einem großen Mann von athletischem Körperbau", passe. Die Anwälte der Angeklagten wollen die Unstimmigkeiten in den Aussagen nutzen. Sie glauben, dass die Angeklagten falsche Geständnisse abgelegt haben.

Eine Reaktion auf den Artikel ließ nicht lange auf sich warten: Kommentare wurden veröffentlicht, die Kritik an der Arbeit der Ermittler übten. Doch noch am selben Tag erklärte die Online-Zeitung „RBC", dass der „neue" Zeuge bereits einen Tag nach dem Mord verhört worden sei und dass laut Vernehmungsprotokoll – das der Redaktion vorliege – der „Mörder mit dem Angeklagten Saur Dadajew Ähnlichkeit haben könnte".

„Ich vertraue den Informationen, die im ‚Kommersant' erschienen sind, aus mehreren Gründen nicht. Unter anderem dank meiner eigenen Quellen", sagte Nemzow-Verteidiger Wadim Prochorow zu RBTH und fügte hinzu: „Auch glaube ich nicht, dass der ‚neue' Zeuge Jewgeni am gesamten Untersuchungsvorgang etwas ändern würde."

Wladimir Kalinitschenko, Ex-Chefermittler für schwerwiegende Verbrechen beim Generalstaatsanwalt der UdSSR, bemerkte gegenüber RBTH, dass sensationsgierige Journalisten häufig ausgenutzt würden, um falsche Informationen „durchsickern" zu lassen. „In diesem Fall wird wohl nach Auftraggebern gefahndet, und hier werden ganz bestimmt irgendwelche Spielchen getrieben", ist Kalinitschenko überzeugt.

Auch Prochorow vermutet größere Drahtzieher hinter dem Mord: „Ich glaube, dass die Täter, die alle aus einer Republik im Süden (Tschetschenien, Anm. d. Red.) stammen, einen einflussreichen Patron haben. Und ich bin überzeugt, dass dasselbe auf die wirklichen Täter zutrifft."

Am Montag machte der „Kommersant" Schlagzeilen mit einem weiteren möglichen Zeugen – einem Unternehmer, dessen vollständiger Name ebenfalls nicht erwähnt wird, für den Saur Dadajew in den letzten Monaten vor dem Attentat in Moskau gearbeitet haben soll.

 

Die Spur führt ins Nirgendwo

Dass die „tschetschenische Spur" bis ins Establishment der Region im Nordkaukasus führen könnte, berichteten Medien bereits Mitte März. Demnach sind die Ermittler auf den Ex-Kommandeur des Bataillons „Sewer"

Ruslan Geremejew aufmerksam geworden, der Verwandte im russischen Parlament hat. Als Anlass dafür dienten Aussagen der Angeklagten Dadajew und Eskerchanow, die von einem Mittelsmann mit dem Decknamen „Rusik" erzählten. Von diesem hätten sie die Waffen und das Auto bekommen. Zusätzlich seien den Mittätern jeweils fünf Millionen Rubel (etwa 80 000 Euro) versprochen worden. Später widerriefen die Angeklagten jedoch ihre Geständnisse und Ruslan Geremejew wurde als Zeuge verhört. Die Ermittler haben die Vernehmungsergebnisse bislang nicht veröffentlicht.

Wiederum der „Kommersant" berichtete am Montag, dass im Fall Nemzow ein neuer Täter auftauchen könnte, der den Mord organisiert haben soll. Demnach gebe es einen mutmaßlichen Täter, nach dem bislang nicht gefahndet werde, gegen den aber ermittelt würde und dessen Person bereits identifiziert worden sei.

Nach Meinung von Wadim Prochorow ist es sehr schwierig, in Tschetschenien nach Organisatoren und Auftraggebern zu fahnden, da die Zuständigkeiten der föderalen Behörden dort ziemlich eingeschränkt seien.

„Von allen Angeklagten konnten nur jene lebend überführt werden, die sich in Inguschetien aufhielten. Derjenige, der in Tschetschenien festgenommen werden sollte, sprengte sich angeblich mit einer Handgranate in die Luft", betonte der Anwalt. „Ich glaube, dass der Mann tatsächlich ums Leben gekommen ist, vermute aber, dass seine Festnahme auf eine andere Weise gelaufen ist", fügte Prochorow hinzu.

Wie zuvor bereits berichtet wurde, haben drei der fünf Angeklagten Alibis, diese werden jedoch noch untersucht. Am Mittwoch kann das Gericht die Haftbefehle gegen drei von fünf Tätern aufgrund eines prozessualen Fehlers aufheben: Die Strafverfahren gegen sie sind nicht zusammen, sondern getrennt zu führen. Wie auch immer der Fall weitergeht, die „Sensationsmeldungen" der Medien sollten mit Vorsicht genossen werden. Darin waren sich alle von RBTH befragten Experten einig.

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