Auswanderung: Immer mehr Menschen verlassen Russland

Seit 2012 steigt die Zahl der Russen, die das Land verlassen. Foto: TASS

Seit 2012 steigt die Zahl der Russen, die das Land verlassen. Foto: TASS

Die Zahl der Auswanderer aus Russland steigt seit Beginn der dritten Amtszeit Wladimir Putins. Politische Verfolgung, gefühlt oder tatsächlich, wird als einer der Gründe genannt. Soziologen haben nachgefragt, was Russen noch dazu bewegt, ihre Heimat zu verlassen.

Anfang Juni verließ Dmitrij Simin, der größte Mäzen auf dem Gebiet von Forschung und Bildung und Ehrenpräsident und Gründer des Unternehmens Wympelkom, das Land. Die Ausreise wird öffentlich mit den Ereignissen rund um die populärwissenschaftliche Stiftung Dinastija in Verbindung gebracht. Diese wurde am 25. Mai zum „ausländischen Agenten" erklärt. Dies sei laut russischen Medien geschehen, um Simin einzuschüchtern – der Multimillionär soll angeblich oppositionelle Politiker und Medien finanziert haben. Im April dieses Jahres wanderte die Umweltaktivistin und Oppositionelle Jewgenija Tschirikowa zusammen mit ihrer Familie nach Estland aus. „In Russland gibt es Repressionen gegenüber politischen Aktivisten", erklärte sie und fügte hinzu, dass der Umweltschutz „der Hauptfeind des etablierten Regimes der Rohstoffoligarchen" sei.

Geschichten wie diese entfachen regelmäßig Diskussionen über eine neue Auswanderungswelle und mögliche Gründe dafür. Soziologen stellten fest, dass die Gründe für eine Ausreise in Wladimir Putins dritter Amtszeit immer häufiger einen politischen Kontext haben. „Es gibt das Gefühl einer zunehmenden Auswanderung", erzählt Pawel Tschikow, Vorsitzender des Verbandes der Menschenrechtsorganisationen Agora. Über viele Jahre hinweg half Agora potenziellen Emigranten einen Antrag auf Asyl zu stellen. Tatsächlich verließen die wenigsten aufgrund tatsächlicher politischer Verfolgung das Land, bemerkt der Jurist – den meisten werde es lediglich allmählich „ungemütlich, in Russland zu leben".

 

Ungemütliche Atmosphäre

„In Wirklichkeit erleben wir weniger eine Auswanderung aus politischen Motiven als eine Auswanderung, die durch die politische Situation provoziert wird", nimmt der Professor und führende wissenschaftliche Mitarbeiter der Fakultät für Sozialwissenschaften der Moskauer Higher School of Economics Julij Nisnjewitsch an. Unterm Strich wanderten unter anderem auch diejenigen aus, die sich überhaupt nicht für Politik interessierten. Das Gesetzespaket zur Regulierung des Internets, die Beschränkung des Anteils ausländischen Kapitals an Unternehmen, die Eigner russischer Medien sind, das als skandalös empfundene Bildungsgesetz, dem unter anderen vorgeworfen wird, dass es die Bildung kommerzialisiere, indem es sie in eine Dienstleistung verwandele, das Gesetz über ausländische Agenten – all dies schaffe eine unangenehme Atmosphäre, glaubt Nisnjewitsch. Pawel Tschikow pflichtet ihm bei: Entscheidender Gradmesser seien nicht die einzelnen Fälle politischer Verfolgung, sondern die allgemeine Abwanderung der Menschen.

Laut Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat ging die Abwanderung aus dem Land seit 1999 Jahr für Jahr zurück. Im Jahr 2012 kehrte sich dieser Trend um: 122 751 Personen verließen das Land – 2011 waren es lediglich 36 774. In den ersten acht Monaten des Jahres 2014 wanderten bereits 203 000 Personen aus – das sind mehr Menschen, als in jedem anderen vollständigen Jahr der bisherigen Amtszeiten Wladimir Putins.

Jenny Kurpen, Koordinatorin der Organisation Human Corpus für Flüchtlingshilfe mit Sitz in Finnland, glaubt nicht, dass sich sicher sagen ließe, wie viele der Emigranten Russland aus politischen Gründen verließen. Sie selbst entschied sich im Juni 2012, das Land zusammen mit anderen Mitbegründern der Organisation zu verlassen. Sie fürchteten eine strafrechtliche Verfolgung in Folge der Bolotnaja-Proteste. Nach Unruhen und Auseinandersetzung mit der Polizei am 6. Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau wurden 34 Teilnehmer der Demonstrationen angeklagt. Zwölf Personen wurden zu längeren Haftstrafen verurteilt.

„Ein wesentlicher Anteil der tatsächlichen politischen Auswanderer spricht öffentlich nicht darüber. Viele reisen illegal aus, manche von ihnen stellen nicht einmal einen Asylantrag und tauchen deswegen gar nicht erst in der Flüchtlingsstatistik des Gastlandes auf", erklärt Kurpen.

Human Corpus existiert offiziell seit weniger als einem Jahr, genauer gesagt seit Oktober 2014. Seitdem wandten sich 200 Personen an die Organisation. Eine repräsentative Aussage könne man mit diesen Zahlen jedoch nicht treffen, glaubt man bei Human Corpus. „Es ist vernünftiger zu sagen, nicht die Zahl der Politemigranten habe zugenommen, sondern dass die Auswanderung aus Russland eine Massendynamik annimmt", sagt Kurpen. Dies sei auch darin begründet, dass „erstmals in der Präsidentschaft Putins nicht nur und nicht in erster Linie die Aktivisten Zielscheibe gewesen sind, sondern normale Menschen, von denen viele zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Protestaktion teilgenommen haben".

 

Hoffnungsträger verlassen das Land

Eine offizielle Statistik für 2015 liegt noch nicht vor, auch der Föderale Migrationsdienst konnte gegenüber RBTH keine aktuellen Zahlen vorlegen. Soziologen des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehen nach Umfrageergebnissen aus dem März von zwölf Prozent Ausreisewilligen aus. 83 Prozent wollten das Land nicht verlassen. Auswanderungspläne würden durch die Krise gebremst, erklärt Stepan Gontscharow vom Lewada-Zentrum. Die Menschen würden abwarten, es herrsche ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit und Angst vor einem Krieg. Deshalb seien gegenwärtig in erster Linie reiche Russen dazu bereit, das Land zu verlassen, sagt Gontscharow. Es seien jene, „die es sich leisten können, zu jedem beliebigen Zeitpunkt auszuwandern".

Politische Motive stellten dabei mitnichten die häufigste Auswanderungsursache dar. Immer noch wanderten Menschen vor allem auf der Suche nach einem besseren Leben aus. „Es existiert der Wunsch, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Das ist ein materieller Faktor", sagt der Soziologe. Die „Politik" sei in erster Linie für eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe, der so genannten Intelligenzija, das Motiv. „Und die jüngsten und aktivsten von ihnen haben nach unseren Angaben bereits in den Jahren 2012 und 2013 das Land verlassen", fügt er hinzu. Damals habe es noch keine Krise gegeben, dafür aber habe die dritte Amtszeit Wladimir Putins begonnen, begleitet von Massenprotesten und einem verstärkten „Anziehen der Daumenschrauben". Das Problem sei natürlich nicht die reine Zahl der Auswanderer, bemerkt Nisnjewitsch, sondern die Auswanderung jener Menschen, auf deren Schultern die erfolgreiche Entwicklung Russlands laste.

 

Ausreisebeschränkungen könnten die Auswanderung stoppen

Aber lange nicht jeder, der theoretisch zur Emigration bereit sei, gehe diesen Schritt auch tatsächlich. „Diskutiert wird das Thema von vielen. Es ist so eine Art Nationalsport der russischen Mittelschicht, über die Auswanderung zu sprechen", glaubt der unabhängige Abgeordnete der Staatsduma und Oppositionelle Dmitrij Gudkow. Selbst will er vorerst nicht emigrieren. Er sagt, dass er sich in einem fremden Land „ungemütlich" fühle, aber er nimmt an: „Es könnte eine Situation entstehen, in der ein Verbleib in Russland eine Gefängnisstrafe zur Folge hätte. Dieses Risiko besteht. Ich hoffe, dass es so weit nicht kommen wird." Seiner Meinung nach wolle niemand auswandern, denn Auswanderer verloren normalerweise ihre Qualifikationen und hätten mit Einbußen in der Lebensqualität zu kämpfen. Nach langen Diskussionen „sehen die Menschen ein, dass das Leben im Ausland teurer ist, man eine Arbeit finden und ein Visum erhalten muss – es gibt so viele Unwägbarkeiten, dass die meisten den Plan wieder fallen lassen".

Im Bildungsbürgertum und unter Wissenschaftlern halte man sich die Option der Auswanderung offen, bekennt Nisnjewitsch. „Diese Menschen wollen nicht weg und wandern vorerst nicht aus, aber sie haben einen Reisepass mit einer anderen Staatsbürgerschaft in der Tasche, falls sich die Lage verschärfen sollte", meint er.

Soziologen glauben, dass die politische Situation sich nicht verschärfen müsse, um eine neue Auswanderungswelle zu erleben. Es reiche aus, dass die Krise ihr Ende findet. Die Zahl der Ausreisewilligen sei zwar geringer als in den vergangenen drei Jahren, bei den Menschen nehme der Glaube an die eigenen Kräfte aber wieder zu: So stieg laut einer Meinungsumfrage der Anteil der Ausreisewilligen von März bis Mai 2015 von 12 auf 16 Prozent an. „Momentan bewegt sich das noch im Rahmen der statistischen Unsicherheit und ist nicht symptomatisch, aber die wirtschaftliche Situation stabilisiert sich allmählich. Der wachsende Wohlstand wird die Auswanderung wieder anheizen, natürlich nur solange keine Ausreisebeschränkungen erfolgen", nimmt Gontscharow an.

Der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für GUS-Angelegenheiten, eurasische Integration und Beziehung zu Landsleuten Leonid Sluzkij glaubt nicht, dass es „eine ausreichende Grundlage für solche Maßnahmen" gebe. Der Kommunist und erste stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Nationalitätenfragen Valerie Raschkin glaubt: „Das Problem der Auswanderung ist für das Land gegenwärtig nicht von Bedeutung. Laut Statistik, Fakten und Anträgen an die Migrationsbehörde existiert ein solches Problem einfach nicht. Die Auswanderung hat nicht zugenommen und hat ein nur verschwindend geringes Ausmaß, das wir nicht einmal berücksichtigen", so Raschkin.

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