Kaukasus
Der Berg ruft:
Das wilde Inguschetien neu entdeckt
von Peggy Lohse
Die gesunde Bergluft zog schon in den 1920er-Jahren Besucher in den Kaukasus. Die Republik Inguschetien will den Tourismus ausbauen und setzt ganz auf Erholung und Sport. In Russlands „unbekannten Alpen" entsteht deshalb ein neues (Berg-)Sport-Zentrum.
Ein Freibad mitten im winterlichen Kaukasus? Mit einem offensichtlich erst kürzlich renovierten und im Winter zugefrorenen Schwimmbecken hatte ich hier in den Bergen Inguschetiens, auf fast 1 500 Meter über dem Meeresspiegel und kaum mehr als ein Dutzend Kilometer von der georgischen Grenze entfernt, nicht gerechnet. Und darauf folgt gleich noch ein Hallenbad mit dem wohlklingenden Namen „Delfin".

Ich fahre mit dem Sessellift vom Ferienort Armhi zu dem Ski-Abfahrtsstart, dem Panorama-Restaurant und der Aussichtsplattform hinauf. Von dort hat man einen wunderbaren Rundumblick auf den sagenumwobenen Tafelberg, die Gemeinde Dschejrach und das Tal des Bachs Armhi.
Bewegende Geschichte zwischen den Extremen
Als sich zu Beginn der neunziger Jahre Tschetschenien von Russland lossagen wollte, blieb Inguschetien Moskau gegenüber loyal.
Inguschetien ist seit 1992 die jüngste und kleinste Teilrepublik Russlands. Dem Profil nach teilt sie sich in zwei landschaftlich völlig gegensätzliche Teile – zum einen in die weite Ebene im Norden mit dem Ballungsgebiet um die Hauptstadt Magas und die größte Stadt der Region Nasran. Entlang der südlichen Grenze verläuft der Hochgebirgsrücken des Nordkaukasus. In der Ferne türmt sich der Schnee auf den bis zu über 4 000 Meter hohen Bergspitzen, während es im Tal noch nieselregnet.

Historisch und geografisch wurde Inguschetien immer wieder von den Nachbarn Nordossetien und Tschetschenien gegängelt. Das Industrie- und Kulturzentrum Wladikawkas gehört heute nicht mehr zu Inguschetien. Der Konflikt dauerte Jahrhunderte an, bis heute erinnern sich die Inguschen an die große Enttäuschung, als Stalin die Stadt 1936 per Erlass aus der damals noch verbundenen Tschetschenisch-Inguschetischen Autonomen Sowjetrepublik loslöste und zur Hauptstadt Nordossetiens machte. Als sich zu Beginn der neunziger Jahre dann Tschetschenien von Russland lossagen wollte, blieb Inguschetien Moskau gegenüber loyal und als eigenständige Republik im Bestand der damals neu entstehenden Russischen Föderation.
1. Das Dorf Datschnoje (heute ein Teil Nordossetiens) wurde 1992 zu einem zentralen Schauplatz im ossetisch-inguschischem Konflikt. Noch zehn Jahre später sind einer Volkszählung zufolge 60 Prozent der Bewohner des Dorfes Inguschen.
2. Der 64-jährige Tschetschene Abuisad Elichanow, der in einem Flüchtlingslager in Inguschetien untergebracht wurde.
3. Sowjetische Fallschirmjäger vor ihrem Abflug aus der Tschetscheno-Inguschischen Republik im November 1991.
Die Türme des „kaukasischen Moskaus"
Die Türme Inguschetiens wurden einzeln aus Stein gehauen, ohne Bindemörtel. Sie stehen noch heute.
Die kleine Republik birgt die weltweit größte Anzahl erhaltener Wohn- und Verteidigungstürme aus dem Mittelalter und noch früher. Die ersten Steinbauten in Inguschetien werden von Archäologen auf das erste Jahrtausend vor Christus datiert, die auffälligen mehrstöckigen Türme entstanden ab dem zehnten Jahrhundert nach Christus.

Der größte zusammengehörige inguschetische Turm-Komplex ist Egikal, das „verlassene Moskau" des kaukasischen Mittelalters. Zu seiner Blütezeit im zwölften Jahrhundert gab es hier sechs Verteidigungs- und ganze 50 Wohntürme.

Hinter jeder Straßenwindung, am Fuße der Berge, finden sich diese Türme. Wie viele Jahrhunderte haben sie überstanden, wenn sie nicht spätestens im Zuge der Deportation der Inguschen in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zerstört wurden? Einige von ihnen sind noch heute bewohnt.
„Das ist eine einzigartige Gegend", sagt der junge Fernsehjournalist Ibrahim Tsoroy aus Nasran. „Ich bin viel gereist, auch in Europa. Ich könnte sicher in Moskau oder im Ausland Arbeit finden. Aber ich kann diese Berge hier nicht zurücklassen."
Aus dem Kreml an die gesunde Bergluft
Noch ist Inguschetien als potenzieller Urlaubsort wenig bekannt. Aber das soll sich möglichst schnell ändern: 2011 bildete die Regierung ein eigenes Tourismus-Komitee, das im Dezember desselben Jahres die erste große Pressetour in den Ferienort Armhi holte. Hier gilt die Bergluft als besonders rein und die Blüten einer lokalen Kiefernart als heilsam. In früheren Zeiten, nach 1926, befand sich in der Anlage ein Sanatorium vor allem für Bergarbeiter aus den Kohleabbaugebieten Donbass und Kusbass. Behandelt wurden hier Asthma, Bronchitis oder Tuberkulose.

Erst im vergangenen Dezember hat Fatima Zokiewa den Urlaubsort übernommen. Sie stammt selbst aus der Region, ging 1992 jedoch nach Moskau. Dort leitete sie zunächst die Gastronomie im Hotel „Rossija", später dann die Haushaltsabteilung des Kremls. Sie gilt damit als erfolgreichste Inguschin der Geschichte, wie man sich im Dorf erzählt. Nun ist sie in Rente und hat auf Einladung eines Verwandten und Investoren den Hotelkomplex „Armhi" in ihrer Heimat übernommen.
„Jeder Gast ist wichtig", sagt die neue Hausherrin. Armhi soll sich ihren Plänen nach vor allem unter Hobby- und Profisportlern als Trainings- und Erholungsort etablieren.
Die ersten Skistrecken sind bereits befahrbar, außerdem werden – auch im Winter – Treckingtouren angeboten. „Wir erfüllen alle Bedingungen für ein Fitness- und Wellness-Dorf", erklärt Zokiewa. Auf dem Gelände gibt es neben den zwei Schwimmbädern auch eine echte russische Sauna, kleine Bungalows und Gesundheitsprogramme. Bei ihren Plänen kann sie auf die Unterstützung des Tourismus-Komitees zählen. Allen ist dabei bewusst, dass noch einige Hürden genommen werden müssen.

„Natürlich weiß ich, dass wir noch am Service arbeiten müssen. Unser Personal muss geschult werden, wir müssen uns an europäischen Standards orientieren", sagt die energische Hoteldirektorin. „Andererseits ist da auch unsere Mentalität, die besondere Kultur und das gute Essen, die Gastfreundschaft."
Inguschetien in Daten

Fläche: 3 600 km²

Einwohner: 430 000

Bevölkerungsdichte: 114 Einwohner/km²

Tiefster Punkt:
Dorf Wezharij-jurt – 230 m

Höchster Punkt:
Berg Schan – 4 451 m

Amtssprachen: Inguschisch, Russisch

Hauptstadt: Magas
Mammutaufgabe für Restauratoren
„Bei den Touristen besonders beliebt sind die inguschetischen Berge", ergänzt Marem Ozdoeva vom Tourismus-Komitee der Republik. Aber auch der Naturpark Erzi und der Museumspark Dschejrach-Assa sind interessant, denn sie beherbergen zusammen über 2 000 Kulturdenkmäler. „Ungeachtet ihrer Fülle", räumt Ozdoeva ein, „sind die meisten von ihnen jedoch derzeit nicht zu besichtigen. Es wird noch in großem Umfang Reparaturarbeiten an den Denkmälern selbst und zum Ausbau der dazugehörigen Grundstücke geben müssen."

Im vergangenen Jahr besuchten nach offiziellen Angaben bereits etwa 40 000 Touristen Inguschetien. Die Gegend ist wie gemacht für einen Aktivurlaub. Und im Februar dieses Jahres kamen dann auch die Profis: Am 3000er-Berg Gajkomd fanden die russischen Meisterschaften im Alpinismus mit rund 150 Kletterern statt.
Achtung: Für Ausländer muss spätestens einen Monat vor Anreise beim zuständigen Grenzschutz ein Passierschein beantragt werden, da die Gebirgsgegend bereits als Grenzregion zu Georgien gilt. Die Unterkunft und das Tourismus-Komitee vor Ort können bei der Organisation helfen.
Anfahrt nach Dschejrach und Armhi

Zug/Flugzeug nach Wladikawkas oder Magas (Nasran)

Moskau–Wladikawkas: etwa 30 Kilometer mit Taxi/Bus

Nasran/Magas: Bus nach Dschejrach (etwa zwei Stunden)
Text von Peggy Lohse
Lektorat Carolin Sachse

Bilder: Peggy Lohse, Sergej Fadejtschew/Tass, Wiktor Gurin/Tass,
Wladimir Wjatkin/Ria Nowosti, AP
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