Russland ist einer der größten Automobilmärkte – was fehlt, sind qualifizierte Zulieferer und Produzenten. Foto: GettyImages/shutterstock
Russlands Automarkt befindet sich im freien Fall. Deutsche Firmen denken dennoch schon an die Zeit danach. Wer lokal fertigt, könnte sich mehr denn je einen Vorteil verschaffen.
Sergei Volkov reckt stolz einen goldglänzenden Riesenschlüssel in die Höhe. Zuvor hatte der Werksleiter der neuen Schaeffler-Fabrik in Uljanowsk zusammen mit der Bürgermeisterin der Stadt und dem Gouverneur der Region Sergej Morozov ein symbolisches Band zerschnitten. Auch der Europachef von Schaeffler Dietmar Heinrich und der Leiter der Automobilabteilung Norbert Indlekofer haben sich auf den Weg ins neue Industriegebiet Zawolschje am Ostufer der Wolga gemacht.
Noch immer ist es ein Großereignis,
wenn ausländische Automobilfirmen in Russland an den Start gehen. Auch
wenn die Investitionen von etwa 40 Millionen Euro und die 300
geschaffenen Arbeitsplätze auf den ersten Blick nicht beeindrucken. Vor
knapp zehn Jahren hatte Russlands Regierung mit dem in Branchenkreisen
berühmten „Dekret 166“ die Autoindustrie zu einem der wichtigsten Objekte ihrer Wirtschaftspolitik gemacht.
Seitdem haben fast alle großen internationalen Hersteller eigene Produktionsstandorte in Russland eröffnet,
vor allem um die hohen Zölle zu umgehen, die Russland aufgestellt hat.
Einen festen Stand hat die Branche allerdings noch lange nicht. Der
Mangel an inländischen Zulieferern lässt den Automobilbau auch weiterhin
am Importtropf hängen. Die Einfuhr von Autokomponenten allein aus Deutschland hat sich zwischen 2008 und 2014 auf über 1,5 Milliarden Euro verdoppelt – während die Einfuhr von deutschen Pkw im gleichen Zeitraum, nach einem zwischenzeitlichen Anstieg, beinahe um ein Fünftel auf 2,2 Milliarden Euro zurückgegangen ist.
Für Schaeffler wird der symbolische Schlüssel der neuen Fabrik ohne Zweifel auch das Tor zum russischen
Zulieferermarkt öffnen. Die Nachfrage ist groß und gute Zulieferer in
Russland sind schwer zu finden. Dabei bestehen etwa die russischen
Volkswagen-Modelle wie der Polo-Stufenheck zu drei Vierteln aus
eingekauften Komponenten.
Zunächst sollen in Uljanowsk Kupplungen
und Getriebeteile für den russischen Markt produziert werden. Auch in
Zeiten der Abschwächung bleibe Russland einer der größten
Automobilmärkte
Europas, ist man sich bei Schaeffler sicher. „Die Hersteller werden den Druck auf Lieferanten erhöhen, um Komponenten ‚made in Russia‘ zu bekommen“, rechnet man sich in der Konzernzentrale in Herzogenaurauch aus.
Einer der Gründe, der die Lokalisierung in Russland derzeit begünstigt,
ist der extrem schwache Rubel. „Autoproduzenten sind gut beraten, mehr
Kosten in den Rubelbereich zu verlagern“, sagt Eduard Cherkin,
Automobilexperte der Beratungsgesellschaft Roland Berger. Bisher haben
Konzerne vor allem arbeitsintensive Produktionsschritte und die Fertigung von großen Bauteilen wie Karosse-
rien oder Autositzen nach Russland verlagert. Der Großteil im Hightech-Bereich musste importiert werden.
Fortschritt zu langsam
Obwohl Russland seit Jahrzehnten über eine eigene Automobilindustrie verfügt, hat es nie ein dichtes Netz von mittelständischen Zulieferern gegeben. Vielmehr haben die Hersteller von Lada, Wolga und Co
die Produktion weitgehend selbst in die Hand genommen. „Deshalb fehlt
es Russland an spezialisierten Betrieben, etwa im Bereich des
Präzisionsgusses“, erklärt Cherkin. Gleichzeitig wa-ren die Volumen der Produktion ausländischer Hersteller in Russland vielerorts noch zu gering, um eine rentable Produktion von hochwertigen Teilen zu rechtfertigen und genügend Investoren im Zuliefererbereich anzulocken.
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Bereits im vergangenen Sommer klagte Frank Haase, Einkaufsmanager von Volkswagen Russland, es sei schwierig, lokale Zulieferer zu finden, die den Qualitätsstandards genügten. Zumal das Unternehmen sich mehr Unabhängigkeit von den Währungskursen wünscht. „Wir kommen voran, aber wir kommen nicht schnell genug voran“, sagte der Manager. Erst kürzlich hat die
Testphase im neuen VW-Motorenwerk in Kaluga begonnen. Viele Projekte
befinden sich noch in der Umsetzung. So baut der japanische Zulieferer
Unipres ein Werk für Karosserieteile in Sankt Petersburg.
Nemak aus Mexiko zieht nur wenige Meter neben dem Schaeffler-Werk eine
Fabrik für Motorteile hoch. Im laufenden Jahr will Bosch in Samara einen
zweiten Standort für die Produktion von Autokomponenten in Betrieb nehmen und mit der Fertigung von ABS-Systemen, Generatoren und Startern loslegen.
Klar ist, dass die Vollbremsung auf dem Automobilmarkt auch die Pkw-Herstellung in Russland trifft. Im Januar sank die Produktion im Vergleich zum Vorjahresmonat um ein Viertel auf 85 000 Fahrzeuge. Im Gesamtjahr 2014 fiel die Produktion mit 1,7 Millionen Autos um zehn Prozent geringer aus als im Jahr zuvor.
„Die Situation ist für die Zulieferer sehr zwiespältig“, erklärt Eduard Cherkin, weil einerseits Aufträge wegfallen, andererseits eine lokale
Produktion gegenüber Importen nun deutlich größere Preisvorteile
bietet. Welcher von beiden Effekten überwiegt, lasse sich noch nicht
sagen. Vieles werde davon abhängen, welche Strategie die Hersteller wählen. „Jemand, der viel Geld hier investiert hat, wie etwa Hyundai oder Ford, der wird die Krise aussitzen und Möglichkeiten zur Kostensenkung su-
chen“, meint Cherkin. Wer in Russland konkurrenzfähig sein will, der muss seine Produktion mittelfristig so weit wie möglich lo-
kalisieren.
Nach der Krise
Das wissen auch die Zulieferer. „Unsere
Investitionen in Russland haben strategischen Charakter. Langfristig
rechnen wir mit einem Wachstum des russischen Marktes, und darauf
möchten wir vorbereitet sein“, erklärt Gerhard Pfeifer, Präsident der
Bosch-Gruppe in Russland, und ergänzt: „Es wird auch eine Zeit nach der Krise geben.“ Unter der Voraussetzung, dass sich die politische und wirtschaftliche Lage entspanne, sei wieder ein langfristiges und konstantes Wachstum der Produktion zu erwarten.
Ein fast noch größeres Problem als die Absatzkrise sind die fehlenden Zulieferer aus der zweiten Reihe. „Einerseits gibt es nur relativ wenige Zulieferer. Andererseits besteht Nachholbedarf etwa hinsichtlich der Modernisierung der Produktionsanlagen oder bei der Prozessstabilität und -qualität als auch bei der Zertifizierung. Der Anteil der Unternehmen, die westliche Qualitätsstandards bei der Fertigung von Automobilen erfüllen, bewegt sich im einstelligen Prozentbereich“, meint Bosch-
Chef Pfeifer. Seine Firma hat
deshalb bereits zwei Zulieferermessen veranstaltet, um internationale
und russische Unternehmen zu motivieren, sich an der Wertschöpfungskette
in Russland zu beteiligen. „Es wird nach der derzeit schwierigen Lage
auch wieder
bessere Zeiten geben. Deshalb begrüßen wir es, wenn auch weitere Unternehmen sich in Russland engagieren.“
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