Braucht Russlands Wirtschaft eine neue Perestroika?

Im Jahr 1990 sitzt ein Obdachloser in der Nähe des Roten Platzes: Viele Menschen waren in der schwierigen Zeit der Wirtschaftsreformen von Armut betroffen.

Im Jahr 1990 sitzt ein Obdachloser in der Nähe des Roten Platzes: Viele Menschen waren in der schwierigen Zeit der Wirtschaftsreformen von Armut betroffen.

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Die russische Wirtschaft kämpft gegen die Krise. Schwache Wachstumsraten und der niedrige Ölpreis machen ihr weiterhin schwer zu schaffen. Einige Experten sehen deutliche Parallelen zu den letzten Jahren der Sowjetunion – und fordern eine zweite Perestroika. Andere sträuben sich gegen den Vergleich, stimmen aber in einem Punkt zu: Reformen sind dringend nötig.

Die Wirtschaftslage im heutigen Russland erinnere an den Zustand der Sowjetunion am Vorabend der Perestroika – die Zeit der Gorbatschow-Reformen Ende der 1980er-Jahre. Zu diesem Schluss kommt Charles Robertson, Chefökonom der großen russischen Investmentbank Renaissance Capital, in seiner Studie „New Perestroika“, deren Resümee der Redaktion vorliegt. So habe das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren zwischen einem und anderthalb Prozent betragen, was dem Durchschnittswachstum in der Sowjetunion im Zeitraum von 1978 bis 1990 entspricht.

Bereits zuvor hatte einer der Väter der Wirtschaftsreform der 1990er-Jahre, der Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst Wladimir Mau, in einem Interview mit RBTH eine ähnliche Parallele gezogen.

Reformen sind dringend notwendig

Auch in den 1980er-Jahren stürzte der Erdölpreis ab. Deshalb sei das Durchschnittswachstum der sowjetischen Wirtschaft, das im Zeitraum von 1950 bis 1978 4,4 Prozent betragen hatte, in den letzten Jahren der Sowjetunion auf 1,2 Prozent gefallen, schreibt Robertson. Er glaubt, dass die Gorbatschow-Reformen die Wirtschaftsaussichten des Landes nicht hätten verbessern können und den Zerfall der Union beschleunigten. Heutzutage sei ein solcher Kollaps in Russland nicht mehr möglich, ist sich Robertson sicher, denn die Struktur der Wirtschaft unterscheide sich zu stark von jener der 1980er-Jahre. Möglicherweise sei aber eine „neue Perestroika“ vonnöten, um ein Wachstum von mehr als zwei Prozent gewährleisten zu können.

Im Mai dieses Jahres beauftragte der russische Präsident Wladimir Putin seinen früheren Finanzminister Alexei Kudrin damit, ein Programm zur Reform der Wirtschaft auszuarbeiten. „Wir fragen uns, ob es in Kudrins Macht liegt, die Wirtschaft viel schneller als die vom IWF vorhergesagten zwei Prozent anwachsen zu lassen“, schreibt Robertson. In seiner Rede auf dem Wirtschaftsforum Atlanty (zu Deutsch: Atlanten) am 4. Oktober in Moskau erklärte Kudrin, dass Russland innerhalb der kommenden fünf Jahre ein Wachstum von drei bis vier Prozent erzielen könne. Zwar sei die Wirtschaft im Jahr 2016 bisher um 0,6 Prozent geschrumpft, werde 2017 aber wieder zwischen 0,5 und 0,8 Prozent wachsen.

Der Wirtschaftsexperte Leonid Grigorjew, der in Kudrins Team dem Bereich Energie vorsteht, erklärte gegenüber RBTH, dass sich die neuen Reformen, wie im Übrigen auch der Zustand der heutigen russischen Wirtschaft im Ganzen, nicht mit der Situation der 1980er-Jahre vergleichen ließen.

Laut Grigorjew ist Russland, wie die meisten der anderen BRICS-Staaten auch, in die „middle income trap“, die Mittelstandsfalle, getreten: Das Wirtschaftswachstum sei plötzlich durch äußerst niedrige Werte geprägt. „Deshalb müssen die Reformen vor allem auf eine Verbesserung der Manövrierfähigkeit, also der Fähigkeit, auch unter sich ändernden Bedingungen weiter zu wachsen, und eine langfristige Verringerung des Ungleichgewichts abzielen“, sagt Grigorjew.

Russlands Wirtschaft durchlebe gegenwärtig tatsächlich eine Strukturkrise, stimmt Igor Nikolajew, Professor an der Higher School of Economics, zu. Für ihn fällt der Anteil des Rohstoffsektors am russischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu hoch und jener der Kleinunternehmen eher zu gering aus. Darüber hinaus seien die Militärausgaben zu hoch, glaubt er.

So könnte die Wirtschaft wieder wachsen

In den nächsten fünf Jahren könne Russland Brasilien, Saudi-Arabien und Mexiko in Sachen Wirtschaftswachstum überholen, versichert Robertson in seiner Studie. Dabei könnten die folgenden fünf Bereiche der russischen Wirtschaft den nötigen Anstoß verleihen: Hypothekenkredite, Tourismus, Landwirtschaft (Russland ist mittlerweile der weltweit größte Weizenexporteur), die Verbesserung des Ratings im „Doing-Business-Rating“ der Weltbank und die Umsetzung liberaler Reformen.

Der Anteil von Kleinunternehmen, der Tourismusbranche und der Hypothekenwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt könne sich verdoppeln, glaubt Igor Nikolajew. Gegenwärtig wird der Anteil der Kleinunternehmen am BIP auf 20 bis 23 Prozent geschätzt, während er eigentlich zwischen 40 und 50 Prozent liegen müsse – ein solches Ziel könne etwa zwei bis drei Jahren nach der tatsächlichen Einführung der Reformen erreicht werden. Nikolajew warnt aber: Die Wirtschaft könne sich angesichts der Sanktionen nicht vollständig entwickeln, was unter anderen auch die Erfahrungen des Irans belegten.

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