Im Zeichen Houdinis: Wie Hellseher in Moskau um Geld antreten

Disciples undergo an initiation ceremony at the "Iklin" Centre for Psychology and Classical Cosmoenergetics.

Disciples undergo an initiation ceremony at the "Iklin" Centre for Psychology and Classical Cosmoenergetics.

Valery Matytsin/TASS
Jeder Dritte in Russland glaubt an übersinnliche Kräfte. Seit zwei Jahren können Menschen ihre Gabe vor einer fachkundigen Jury unter Beweis stellen – geschafft hat das bislang aber niemand.

Bei dem Harry-Roudini-Preis werden die Fähigkeiten der Hellseher getestet. / Wiktoriia RjabikowaBei dem Harry-Roudini-Preis werden die Fähigkeiten der Hellseher getestet. / Wiktoriia Rjabikowa

Vorsichtig legt ein Mann mit Latexhandschuhen Fotografien von Prominenten mit der Rückseite nach oben auf einen Tisch. Auf jedes Bild legt er ein dickes Blatt Papier und beleuchtet es mit einer Taschenlampe, um zu prüfen, dass keine Person durchscheint. Neben ihm steht eine junge Frau mit einem Lineal. Sie achtet darauf, dass zwischen Barack Obama, Adolf Hitler und dem ersten Mann im Weltall Juri Gagarin mindestens 30 Zentimeter Abstand liegen.

Vor zwei Jahren wurde in Moskau der unabhängige Harry-Houdini-Preis ins Leben gerufen. Wer seine übersinnlichen Kräfte unter Aufsicht von Skeptikern erfolgreich unter Beweis stellt, erhält eine Million Rubel, rund 16 300 Euro. Noch ist das keinem gelungen.

Eine Frau betritt den Saal, die Hellseherin. „Fasst bloß den Tisch und die Fotos nicht an! Ihr zerstört die Aura!“, witzelt Michail Lidin. Er ist Mitglied der Jury und trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei des berühmten Magiers Houdini. Die Show scheint er mit etwas Geringschätzung zu verfolgen.

Das sei bereits der zweite Versuch von Olga Jeltschaninowa, klärt Lidin auf. Der erste habe im vergangenen Dezember stattgefunden, doch den hätten weder Jeltschaninowa noch zwei andere Hellseher bestanden. Grund waren kleinere Unstimmigkeiten mit dem Regelwerk. Nun will die Wahrsagerin es noch einmal probieren.

Jeder Dritte glaubt an Übernatürliches

Jeder dritte Russe glaubt an die Existenz von übersinnlichen Kräften. / Valery Matytsin/TASS Jeder dritte Russe glaubt an die Existenz von übersinnlichen Kräften. / Valery Matytsin/TASS

Der Harry-Houdini-Preis ist nur eine von vielen Erscheinungen des in Russland verbreiteten Trends. Laut dem Allrussischen Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung (WZIOM) glauben 36 Prozent der russischen Bevölkerung an Magie. Die meisten davon sind zwischen 45 und 59 Jahre alt.

Für die Psychologin Natalia Kiselnikowa hat diese Popularität einen einfachen Grund: „Der Mensch hat immer versucht, eine Erklärung für etwas zu finden, was er nicht versteht. Das war schon bei den Menschen in der Antike so. Was sie an physikalischen und biologischen Grundlagen nicht kannten, kompensierten sie durch den Glauben an ein göttliches Eingreifen. Die einen werden religiös, die anderen wenden sich an Hellseher. Der Mensch glaubt gern an übersinnliche Kräfte oder an übernatürliches Wissen und hofft auf Hilfe und Begleitung im Leben.“

Ein weiterer Grund sei in geringer Bildung und sozialer Instabilität zu finden. Diese Menschen hätten keinen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Wenn Menschen keine klare Linie mehr haben und um ihre Existenz bangen, wenden sie sich oft an Hellseherinnen und Wahrsager. Das hilft ihnen, Stress zu reduzieren“, erklärt Kiselnikowa.

Der Harry-Houdini-Preis ist eine Möglichkeit, diese Nachfrage zu befriedigen. Wer am Wettbewerb teilnehmen will, muss seine Fähigkeiten entweder in einem Video demonstrieren oder von einem Medienbericht oder wissenschaftlichen Artikel bestätigen lassen. Das Jurykomitee prüft den Antrag und entwirft eine Aufgabe für den Kandidaten. Die Aufgabe von Olga Jeltschaninowa heute ist es, in 40 Minuten zu erkennen, welche Personen die Fotos auf dem Tisch zeigen.

„Wir haben im Voraus mit der Kandidatin über die Fotos gesprochen“, erklärt Stanislaw Nikolski, der den Wettbewerb leitet. Ist das denn fair? „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hellseherin auch nur einen Prominenten erkennt, liegt bei eins zu zwölf. Damit sie die Prüfung besteht, muss sie mindestens sechs von zwölf Fotos richtig erkennen. Dafür braucht es wirklich ein Wunder. Geben wir der jungen Frau wenigstens die Hoffnung zu gewinnen.“

Bis jetzt hat es noch keiner geschafft

Die Wahrsagerin Olga Jeltschaninowa versucht, die Personen auf den Fotos zu erraten. / Wiktoria RjabikowaDie Wahrsagerin Olga Jeltschaninowa versucht, die Personen auf den Fotos zu erraten. / Wiktoria Rjabikowa

Für Wahrsagerei und Magie interessieren sich in Russland überwiegend Frauen. Laut WZIOM-Umfragen glauben 42 Prozent der Frauen an übernatürliche Kräfte, bei den Männern sind es nur 29 Prozent. Grund dafür, so erläutert Natalia Kiselnikowa, sei nicht die „weibliche Natur“, wie so viele gerne glauben wollen. „Soziale Faktoren und Geschlechterstereotypen spielen da eine wichtige Rolle. Es kann sein, dass bei der Erziehung von Mädchen weniger Wert auf rationales Denken gelegt und die Neigung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen weniger gefördert wird“, erklärt die Psychologin im Gespräch mit RBTH.

In dem Saal, in dem Olga Jeltschaninowa nun steht, schauen nur ein Jurymitglied, ein unabhängiger Experte und ein Kameramann ihr zu. Alle anderen Neugierigen müssen durch Vorhänge spähen. Die Wahrsagerin lässt ihre Hände auf mysteriöse Weise über einem der umgedrehten Fotos kreisen, die mit einem Blatt Papier verdeckt sind. Sie macht sich Notizen, geht mit einem konzentrierten Blick zum nächsten Foto über und wiederholt das Ritual.

Die Stille wird lediglich vom Auslöser der Kamera und dem Flüstern einer Zuschauerin unterbrochen: „Vielleicht klappt es ja!“, sagt die 45-Jährige mit braunen Haaren, die hinter einem Vorhang hervorlugt.

Doch es klappt nicht. Wie beim letzten Versuch konnte die Kandidatin nur ein Foto erraten. „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte es vielleicht besser funktioniert“, sagt die Hellseherin bedrückt. Dann versucht sie noch eine Erklärung: „Die Fähigkeiten sind von der Umgebung und der Situation abhängig. Bevor ich zum Beispiel in den Urlaub geflogen bin, habe ich vorhergesagt, dass das Flugzeug abstürzen würde. Und es stürzte ab! Wenn man seine Fähigkeiten vorführt, steht man unter Druck, dann ist man schüchtern und es klappt nichts. Ich sage nicht, dass ich eine große Hellseherin bin. Ich wollte mich testen und akzeptiere die Niederlage.“

Hoffnung auf neue Erkenntnisse

Olga Jeltschaninowa mit Stanislaw Nikolski, dem Chef des Harry-Roudini-Preises. / Wiktoria RjabikowaOlga Jeltschaninowa mit Stanislaw Nikolski, dem Chef des Harry-Roudini-Preises. / Wiktoria Rjabikowa

Damit reiht sich Olga Jeltschaninowa in die gescheiterten Versuche ein. Gibt es den Houdini-Preis möglicherweise nur, um die Existenz von übernatürlichen Kräften zu widerlegen? Nein, sagt Stanislaw Nikolski. Das gescheiterte Experiment bedeute nur, dass es an diesem Tag eben nicht geklappt hat. Im Übrigen auch wie bei den letzten fünf Versuchen mit insgesamt 15 Hellsehern.

„Trotzdem müssen wir solche Menschen finden. Auf der Welt gibt es so viele Dinge, die wir nicht verstehen. Jede neue Erkenntnis über unsere Welt ist etwas Gutes“, fügt der Chef des Wettbewerbs hinzu und erklärt: „Wenn ein solches Phänomen tatsächlich existiert und wissenschaftlich bewiesen würde, dann würde es unser Weltbild bereichern und der Menschheit helfen, die Natur des Universums zu verstehen.“

Auf einmal kommt die Zuschauerin von vorhin hinter dem Vorhang hervor. „Das war zu erwarten!“, sagt sie enttäuscht und steckt die Fotos auf dem Tisch in ihre Tasche. Auf einen fragenden Blick erklärt sie: „Ich probiere das zu Hause mal selbst.“ Vielleicht besitzt ja diese Frau die übersinnlichen Kräfte, nach denen Nikolski sucht und mit denen sowohl das Wissen um die Welt als auch sie selbst reicher werden.

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