Weitere Krawalle können folgen

Der Zusammenprall zwischen Migranten und den Fußballhooligans war heftig. Copyright: Niyaz Karim

Der Zusammenprall zwischen Migranten und den Fußballhooligans war heftig. Copyright: Niyaz Karim

Die Pogrome im Moskauer Stadtzentrum deuten auf ernste Probleme in der Gesellschaft wie im Rechtssystem hin, ganz zu schweigen von den Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Diese Unruhen haben gezeigt, wie verdorben die öffentliche Ordnung im Land ist: Man richtet sich nicht nach dem Gesetz, sondern nach dem eigenen Verständnis.

In diesem System gilt nicht gleiches Recht für alle, in diesem System können sich Täter bei den Ordnungshütern freikaufen, was viele Geschäftsleute und ethnische Minderheiten schon oft bewiesen haben. Am 6. Dezember, als der Fußballfan Jegor Swiridow bei einer Schlägerei von Kaukasiern ermordet wurde, ließen die Ermittlungsbeamten fast alle Mittäter frei. Inzwischen ist das die Norm. Die darauf folgenden Unruhen und die Wiederaufnahme der Ermittlungen sind eher ein Ausnahmefall.

Der Staat, repräsentiert durch die Ordnungskräfte,  hatte durch seinen Unwillen bzw. seine Unfähigkeit, den Fall aufzuklären, die jugendlichen Gruppierungen provoziert.  Bis zum Ausbruch der Krawalle am 11. Dezember hatten die Behörden genügend Zeit, ihren guten Willen zu demonstrieren.  Während der Unruhen waren sie dann zu träge, bei den Konsequenzen zu fahrlässig.

Die Behörden lassen sich nicht mehr über politische Parteien oder Abgeordnete erreichen. Gewalt ist das einzige Signal, das sie noch wahrnehmen, Gewalt, die so nah wie möglich am Kreml stattfinden sollte. Die Rechtsprechung im heutigen Russland funktioniert erst dann, wenn die Behörden erkauft oder eingeschüchtert werden. Und das ist auch der Fehler im System, der zu den Krawallen geführt hat.  Unter diesen Umständen ist eine Wiederholung der Pogrome vorprogrammiert.

Bei allem Respekt dem Moskauer Polizeichef Wladimir Kolokolzew gegenüber, der sich vor die aufgebrachte Menge hinstellte und verhandelte, ging die  Polizei doch intuitiv und reaktionär vor. Sondereinheiten, bei Demonstrationen von Liberalen und Menschenrechtlern sonst durchsetzungsstark, nahm man am Samstag kaum wahr. Warum denn auch: Ihre Aufgabe ist es doch längst,  nicht die Bürger zu schützen, sondern den Staat. Dieser Paradox erklärt auch, warum sich die Sondereinheiten nicht in ethnische Übergriffe an kaukasisch aussehenden Bürgern einmischten.

Die Reaktion der Landesführung ist das offensichtlichste Indiz für die Systemkrise: Während es im russischen Internet brodelte, schwieg sich die Führungspitze aus, als wäre sie gelähmt: Präsident Dmitrij Medwedjew gab sich zornig, Innenminister Raschid Nurgalijew verwechselte die Linken mit den Rechten und stotterte undeutlich vor sich hin, Premier Wladimir Putin und Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin schwiegen, genauso Sprecher des Föderationsrats, Fraktionsvorsitzende, Abgeordnete und Senatoren.

Jarhrelang kämpfte Russlands Führung gegen die imaginäre "orange Bedrohung", übersah dabei aber die braune. Wahrscheinlich, weil sie diese Gruppierungen eher für das Serum als das Gift hielt: Früher sind bei derartigen  Auschreitungen  Vertreter der kremltreuen Jugendbewegungen "Molodaja Gwardija" oder "Naschi" präsent gewesen - immer  dann zur Stelle , wenn es gegen Umweltschützer oder Liberale ging. Wahrscheinlich waren einige von ihnen dieses Mal  unter den Randalierern.

Wie bei solchen Vorfällen üblich, tauhten kurz danach Verschwörungstheorien auf. Früher hätten kremlnahe Machtgefüge Fußballfans und Hooligans auf politische Gegner angesetzt, hieß es beispielsweise. Es hätte doch auch sein können, dass sie auch dieses Mal dahinter steckten. Schaut man auf die holprigen Auftritte der Behörden und ihre Ratlosigkeit, wird eher das Gegenteil klar. Geheimdienste und Militärs könnten die Ausschreitungen delegiert haben, weil sie der Regierung signalisieren wollten, dass es mit dem westlich orientierten Liberalismus allmählich reiche, hieß es aus einem anderen Lager. Doch ob die Eskalation gesteuert ablief oder nicht, die dadurch frei gewordene Energie ist beeindruckend und zerstörerisch gleichermaßen.

In einer unkonsolidierten Parallelexistenz von Staat und Gesellschaft kann organisierte Gewalt viel Unheil anrichten. Am besten von allen Gruppierungen sind die Nationalisten organisiert. Sie sind auch am besten auf Massenproteste vorbereitet. Was sie am vergangenen Samstag demonstrierten war auch nicht ihre Kraft, sondern ihre Fähigkeit Situationen auszunutzen. Der Mob erschien den Betrachtern zahlreich, aggressiv, durch seine Parolen durchweg nationalistisch.

Alle Protestierenden als Nationalisten abzustempeln wäre jedoch falsch. Ein beträchtlicher Teil der Menge waren Fußballfans, denen der Tod ihres Kameraden nahe ging. In ihrer Forderung nach Gerechtigkeit und Justiz sind sie die eigentlichen Verbündeten Medwedjews, weil sie genauso einen Rechtsstaat in Russland sehen wollen. Sie wollten eine korrekte Ermittlung in einem Mordfall, aber sie bekamen sie nicht. Dafür verurteilten sie die korrupten Behörden und die “Kaukasier”.

Das zukünftige Miteinander in Russland wird davon abhängen, ob die Behörden aus dem 6. und 11. Dezember ihre Lehre ziehen. Die Sache ist viel zu weit gegangen, als dass man die Lage  allein durch ein gerechtes Verfahren wieder beruhigen könnte. Sollte der Staat die Verletzungen der Rechte seiner Bürger bei diesen Ausschreitungen wieder ignorieren und dadurch die ultranationalistische Stimmung nicht wenden können, werden weitere Ausschreitungen folgen - das nächste Mal gegen Kaukasier und gegen Russen, und nicht mehr nur in Moskau.

Nikolaj Petrow ist Mitglied des wissenschaftlichen Rates am Moskauer Carnegie Center.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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