Immer mehr Menschen ziehen hinaus aufs Land. Die Großstadt kann ihnen keine Lebensqualität mehr bieten. Foto: Anna Nemtsova
Die Ärztin Jewgenija Pystina aus der sibirischen Millionenstadt Nowosibirsk musste still lächeln, als ihr Mann, ein renommierter Konzertpianist, ihr begeistert von Naturschützern berichtete . Sie lebten a ls Selbstversorger am Ufer des Ob 120 Kilometer außerhalb von Nowosibirsk. „Ich lachte über seine Geschichte, doch er wollte mich unbedingt dort hinbringen, damit ich alles mit eigenen Augen sehen könne“, erinnert sie sich. „Wir kamen und blieben.“
Pystina, ihr Mann und die sieben- und achtjährigen Töchter sind eine von 51 Familien, die in der Kommune „Schlaraffenland“ leben. Das jüngste Mitglied ist ein Jahr alt, das älteste 91. Die Zahl der „Ökokommunen“, wie sie in Russland heißen, ist im letzten Jahrzehnt sprunghaft angestiegen. Stadtmüde Utopisten zogen sich in die entlegensten Regionen zurück, auf der Suche nach einem einfachen und selbstbestimmten Leben im Einklang mit der Natur und auf der Flucht vor Konsum, staatlicher Kontrolle und behördlicher Korruption.
Argwöhnische Behörden
Die ehemalige Wissenschaftlerin und Ärztin Jewgenija Pystina singt vor sich hin, während sie Kohlköpfe auf der Veranda stapelt, für den Winter Honig in Kanister füllt und mit ihren Töchtern Angelina and Polina Eier bemalt. „Seit ich in der Kommune lebe, weckt mich jeden Morgen meine unbändige Neugier auf Kunst, Gesang und ökologische Landwirtschaft“, sagt sie.
Nicht alle sind von solcherart Aussteigerfantasien angetan. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bezeichnet die Kommunen als Sekten mit geheimen Ritualen und die Behörden einiger Regionen stehen Anträgen der Öko-Aktivisten und der Kommunen, den Grund und Boden, auf dem sie siedeln, käuflich zu erwerben höchst kritisch gegenüber.
Die Bewohner des „Schlaraffenlands“ hingegen betonen: „Wir stellen für niemanden eine Bedrohung dar, und jedes Haus ist offen für Gäste, die unseren selbstgemachten Honigkuchen und die Ziegenmilch kosten möchten.“ Tatsächlich wollen sie mit den religiös geprägten Kommunen, die parallel zu ihnen überall in Russland entstehen, nichts zu tun haben.
Die vegetarische Lebensweise der Kommunenbewohner basiert auf ökologischer Landwirtschaft. Gleichzeitig legen die Familien großen Wert darauf, dass ihre Kinder durch Mitglieder der Gemeinschaft mit entsprechender Bildung zu Hause unterrichtet werden.
Jewgenija Pystina etwa hat das Fach Chemie übernommen. „Jeder Haushalt trägt zum Gemeinwohl der Kommune bei“, sagt sie. Die Familie des ehemaligen Physikers Waleri Popow hilft Neuankömmlingen beim Bau ihrer Blockhütten. Die Zahnarztfamilie Nadjeschdin betreibt die Bäckerei der Kommune. Klawdija Iwanowa, ehemalige Musiklehrerin, hat sich hier auf selbstgeschneiderte Kleider im traditionellen Stil spezialisiert.
Ihr Ehemann, im früheren Leben Offizier, hilft bei der Abfallaufbereitung. „Mein ganzes Leben lang war ich Teil eines starren Systems: in der Schule, an der Universität, später als Offizier der Roten Armee. Doch das System zerbrach direkt vor meinen Augen, zerstört von Lügnern, Dieben und korrupten Funktionären“, erklärt Iwanow das Verlangen vieler Menschen nach einem neuen Leben in der Kommune. „Wir sind hier, um ein Lebensmodell für freie, aktive und selbstbewusste Menschen zu entwickeln. Und wir wollen unseren Beitrag gegen die Umweltzerstörung leisten.“
Umweltorganisationen wie Greenpeace Russia sehen die neue Ökobewegung durchaus positiv. „Wir begrüßen alle grünen Bewegungen, da sie Ausdruck für den natürlichen Drang des Menschen sind, im Einklang mit der Natur zu leben“, so Wladimir Tschuprow, Fachmann für Energiefragen bei Greenpeace Russia.
Im Rahmen einer Studie von Super-job.ru wurden die Befragten gebeten, die drei größten Herausforderungen in ihren Heimatstädten zu benennen. Am meisten bemängelt wurde der schlechte Zustand der Straßen – hier standen an erster Stelle Samara (70%) und Nowosibirsk (63 %).
Zweitens gab es Klagen über die mangelhafte Sauberkeit der Straßen; Müllereimer würden zu unregelmäßig entleert oder fehlten ganz. Darüber beschwerten sich besonders die Einwohner von Samara (58 %) und Jekaterinburg (55 %).
Das dritte Problem in Russlands Städten sind die täglichen Staus aufgrund fehlerhafter Verkehrsplanung. Über verstopfte Straßen beklagten sich die Moskauer am häufigsten (42 %); in Nischni Nowgorod leidet jeder dritte Einwohner unter dem Verkehrschaos (33 %), in Jekaterinburg jeder vierte (25 %). Die Umfrage wurde im Früh-jahr 2010 unter der berufstätigen Bevölkerung von elf russischen Groß-städten durchgeführt.
Auch das Paradies ist rissig
Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Russland bereits ein Leben in der Wildnis gewählt haben, gibt es nicht. Aber die Tendenz ist steigend. Dutzende von Ökodörfern entstanden in den letzten beiden Jahren allein im Altai, in Karelien und an der Wol-ga. Einige haben sogar den Sprung über den Ozean geschafft wie die populäre US-amerikanische Ökosiedlung Shambhala-Shasta Eco-Settlement in Oregon.
Das Leben auf dem Land kann aber auch grausame Seiten haben. Die einfachen Lebensbedingungen, Ernteausfälle und Krankheiten stellen das frei gewählte neue Leben ein ums andere Mal auf den Prüfstand. Im letzten Winter sank die Temperatur in den Bergen des Altai unter -50°C. „Schon das Anheizen des Holzofens in den frostigen Morgenstunden wird da zu einer Bewährungsprobe“, erzählen die Aktivisten.
Und wie überall , w o Menschen miteinander leben, treten auch in den Ökokommunen interne Konflikte auf und sogar Ansätze von Korruption. Desillusioniert haben deshalb einzelne Mitglieder ihrem Utopia den Rücken zugekehrt.
Olga Kumani, eine ehemalige Gerichtsreporterin aus Nowosibirsk, war 2002 aus der Großstadt geflohen. „Ich konnte nicht mehr atmen in der Stadt; überall staatliche Zwänge und Korruption“, erzählt sie. Auf der Suche nach dem Ort für ein besseres Leben schloss sich die dreifach Mutter der Tscharbai-Kommune im Altai an. „Die Leiter der Kommune wollten aber nur unser Geld und unsere Arbeitskraft“, sagt Kumani. Sie trat aus der Gemeinschaft aus und ließ sich an einem noch abgeschiedeneren Ort nieder.
Sie und ihre Kinder leben jetzt in einem Verbund von 22 Künstlern, die in einem kleinen Dorf in der Republik Altai Tontöpfe und Flöten herstellen. Doch auch diese Künstlerkommune empfindet Kumani als anstrengend, die Beziehungen unter den Mitgliedern seien angespannt. „Wir suchen immer noch,” erzählt sie. Der nächste Umzug soll sie in eine der entlegensten Gegenden Sibiriens führen.
Anna Nemtsova schreibt über Russland für das amerikanische Newsweek-Magazin.
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