Als wäre ich ein Teil von ihm

Das Ehepaar Solschenizyn in  ihrem Haus bei Moskau. Das Bild stammt aus dem Jahr 2007. Foto: Juri Feklistov_RG

Das Ehepaar Solschenizyn in ihrem Haus bei Moskau. Das Bild stammt aus dem Jahr 2007. Foto: Juri Feklistov_RG

Alexander Solschenizyn, Chronist von Gulag und Stalinismus, starb vor zwei Jahren. Darum, dass sein Vermächtnis weiterlebt, kümmert sich seine Witwe.

 

Zehn Minuten Fußweg nur sind es vom Kreml die belebte Haupt-
straße Twerskaja hinauf. Im Hinterhof der Nummer zwölf steht ein fünfstöckiges Haus aus der Zarenzeit. A n gelb gestrichenen Jugendstil-Treppengeländern mit floralen Verzierungen steigt man in den ersten Stock. Gerade steht vor der Tür ein sehr alter Mann, er sieht und hört schlecht. „Ist hier die Solschenizyn-Stiftung?“, fragt er unsicher. Die Tür öffnet sich, und eine Mitarbeiterin empfängt den ehemaligen Gulag-Häftling herzlich.

Natalja Solschenizyna erwartet mich im ehemaligen Arbeitszimmer ihres Mannes, rundherum Hunderte seiner eigenen Bücher, übersetzt in mehr als 40 Sprachen. Ihr silbernes Haar trägt die 70-Jährige kurz, mit Seitenscheitel. Solschenizyna, in einen schwarzen Pullover und eine Hose gekleidet, wirkt standhaft, selbstbewusst. Und sie hat wenig Zeit. „Zur Sache“, sagt sie mit ihrer tiefen Stimme.

 

Zeit verschwenden, das konnte auch ihr Mann auf den Tod nicht ausstehen: Alexander Solschenizyn, einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, in dem der 1918 geborene Russe seine Erlebnisse in den Stalin‘schen Lagern verarbeitete, wühlte nach seiner Veröffentlichung 1962 die 
sowjetische Gesellschaft auf. 1970 erhielt er den Nobelpreis, und während in der Sowjetunion das kurze „Tauwetter“ zu Ende ging, zogen sich über den Solschenizyns die Wolken zusammen.

 

Ein Sargnagel der Sowjetunion

 

1973 erscheint der „Archipel Gu-lag“ im Ausland, eine Dokumentation des Lagersystems auf 1700 Seiten, basierend auf Hunderten Augenzeugenberichten, die Solschenizyn von Häftlingen zugesandt bekam. Wie kein anderes Buch diskreditiert es das Sowjetsystem. Am 12. Februar 1974 klingelt es in der Wohnung an der Twerskaja-Straße. Alexander Solschenizyn wird des Landesverrats beschuldigt und ausgewiesen. „Hier vor der Garderobe haben sie Alexander Issajewitsch verhaftet“, erinnert sich seine Frau. Spricht sie über ihren Mann, dann immer mit Vor- und Vatersnamen.

Und es ist der „Archipel Gulag“, der Natalja Solschenizyna seit dem Tod ihres Mannes 2008 beschäftigt. Vor wenigen Wochen erschien eine von ihr auf ein Viertel gekürzte Version - für die Verwendung in russischen Schulen. Die Idee hatte Solschenizyna bei einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Wladimir Putin geäußert. Es ist das dritte Solschenizyn-Buch nach „Matrjonas Hof“ und „Iwan Denissowitsch“.

 

„Das Interesse an Solschenizyn wächst stetig seit Ende der 90er-Jahre“, erzählt die 70-Jährige. Derzeit verlegen 1 5 russische Verlage Werke ihres Mannes. Es sei kein Zufall, sagt sie, dass das Interesse wachse: „Solschenizyn muss man lesen, wenn nicht alles in Ordnung ist im Lande.“ Denn seine Werke werfen zeitlose Fragen auf über Menschlichkeit, Würde und Moral. Wer ihn lese, betreibe „Gymnastik für Geist und Seele.“ „Immer wird man vor die Wahl gestellt: Wie hätte ich mich verhalten?“

Aber ist es nicht paradox, dass die Schüler nun zum einen Solschenizyn lesen und in Geschichte lernen, Stalin sei ein „effektiver Manager“ – so ein Schulbuch aus dem Jahr 2008? „So war es schon immer“, sagt Solschenizyna. „Auch in der Sowjetunion haben wir in Geschichte gelernt, Nullen zu sein“, sagt sie und formt mit Daumen und Zeigefinger eine Null in der Luft, „und in Literatur wiesen uns Puschkin und Lermontow an, gute Menschen zu sein“. Aber sie zweifelt auch an dem angeblichen Stalin-Revival in Russland. Stalin sei eher ein Symbol: „Die Menschen, die ihn verehren, zeigen damit vor allem, dass sie gegen den heutigen Niedergang sind.“

 

Kein Blatt vor den Mund

 

Solschenizyna ist ein sehr wacher Geist, eine angenehme Vertreterin der Moskauer Intelligenzija. Ebenso wie sie es 40 Jahre lang mit ihrem Mann getan hat, diskutiert sie auch jetzt mit Eifer über den S tand der Freiheit wie über den Zustand von Moskaus Straßen. Auch bei ihrem Treffen mit Putin hat sie kein Blatt vor den Mund genommen.

Stets an seiner Seite – auch zwei Jahre nach seinem Tod

Natalja Solschenizyna, 70, ist die Witwe des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, der am 3. August 2008 starb. Die Russin folgte ihrem Mann zusammen mit den drei Söhnen ins Exil, in das ihn die sowjetische Regierung 1974 nach der Veröffent-lichung von „Archipel Gulag“ zwang. 1994 kehrten die Familie zurück nach Moskau. Solschenizyn äußerte sich wiederholt kritisch über Jelzin und über das Russland unter Putin. Nach dem Tod des Autors nahm das russische Bildungsministerium „Archipel Gulag“ in den Schullehrplan auf. Eine gekürzte Fassung des dreibändigen Werkes erstellte Natalja Solsche-nizyna. Als Assistentin, Redakteurin, Kritikerin nahm sie großen Anteil am Werk ihres Mannes.

Und sie arbeitet von früh bis spät. Was Natalja Solschenizyna da alles aufzählt, passt nicht in die Vorstellung vom Alltag einer 70-Jährigen: Sie kümmert sich um die Solschenizyn-Stiftung, die aus den Einnahmen des „Archipel Gulag“ noch immer Tausende Opfer des Stalin‘- s chen Terrors unterstützt. Sie sitzt in der Jury des Solschenizyn-Preises für Literatur. Und beständig arbeitet sie an dem 30-bändigen Gesamtwerk ihres Mannes, in dem auch eine große Anzahl unveröffentlichter Werke erscheint. Aber die Zeit läuft ihr davon: Im Regal, zeigt Solschenizyna, stehen erst ganze 14 Bände.

Vor einigen Monaten hat sie auch zum ersten Mal persönliche Dinge ihres Mannes archiviert: Das Genfer Martin-Bodmer-Museum zeigt ab Mai eine Ausstellung von Solschenizyns Handschriften und persönlichen Gegenständen.

Das sind schwere Momente. „Es ist fast unmöglich, mich an seine physische Abwesenheit zu gewöhnen“, jetzt spricht Solschenizyna langsamer, weicher. Ihre Stimme zittert zum ersten Mal an diesem Tag, und ihre Augen werden feucht. Die Welt hat vor zwei Jahren einen großen Schriftsteller verloren, Natalja Solschenizyna ihren geliebten Mann. „Jedes seiner persönlichen Dinge – das ist wie ein plötzlicher Stich ins Herz.“ Sie drückt ihre Faust ans Herz, um zu zeigen, wie weh es tut.

Lebensfreude bringen der Witwe ihre drei Söhne mit ihren Fami-
lien. Einer ist berühmter Konzertpianist und Dirigent in den USA, die anderen sind beim amerikanischen Unternehmensberater McKinsey in Moskau angestellt.

Und sprechen kann sie immer noch Tag für Tag mit Alexander Issajewitsch. „Ich fühle mich, als wäre ich ein organischer Teil von ihm“, sagt sie, „ganz besonders dann, wenn ich an seinem Werk arbeite.“

Moritz Gathmann ist Gastredakteur von Russland HEUTE und lebt in Kaluga. 

 


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