Kein Sieg in Sicht für den Chodor, statt dessen vergitterte Fenster.Copyright: Niyaz Karim
Nehmen wir das Beispiel eines Menschen, der einen Fernseher gestohlen, verkauft und das Geld bei der Bank eingezahlt hat. Er würde des Diebstahls für schuldig befunden – und darüber hinaus der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche. So ist es Rechtsspraxis in Amerika. Warum überzeugt uns aber das Urteil so wenig? Einfach deshalb, weil in Russland die Menschen nicht nach dem Gesetz, sondern nach ihrem Gerechtigkeitssinn entscheiden. Und genau dies tue ich auch.
Steuermoral der Ölkonzerne
Ich gehöre zu denjenigen, die absolut davon überzeugt sind, dass der Yukos-Konzern erheblich weniger Steuern zahlte, als er es hätte tun müssen. Dies wurde mir schon drei Jahre vor Chodorkowskis Verhaftung 2003 aus einem internen Bericht meines damaligen Arbeitgebers, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), klar. Danach unterschieden sich hinsichtlich der Steuermoral die russischen Ölkonzerne sehr stark voneinander, und Yukos nahm auf der Skala der Steuerwilligen den letzten oder vorletzten Platz ein. Das heißt, dieser Konzern riskierte viel, sehr viel.
Ein Dieb gehört ins Gefängnis
Aber auch andere hatten praktisch zeitgleich mit Yukos mit großen Unannehmlichkeiten zu rechnen, nämlich mit hohen Steuernachzahlungen und Verzugszinsen. Doch sie wurden nicht aufgelöst, gegen ihre Eigentümer wurden keine Strafverfahren eingeleitet, trotz identischer Rechtslage. Nur in einer idealen Welt sind vor dem Gesetz alle gleich.
Es waren die Steuern und die Veruntreuung von Betriebsaktiva, die Wladimir Putin zu der vielzitierten Äußerung veranlassten: „Ein Dieb hat im Gefängnis zu sitzen.“ Schön gesagt – 90 Prozent der russischen Wähler würde diesen Satz unterschreiben. Allerdings glauben bei uns inzwischen immer weniger Menschen, dass die starre Position des Gerichts etwas mit Härte gegenüber Dieben zu tun habe. In der Tat: Dafür, dass „Recht und Ordnung“ auf ihrer Seite standen, reagierten die Machthaber recht nervös. Und genau das bringt die Mehrheit der denkenden Menschen nun leider unweigerlich auf den Gedanken, dass hinter dem harten Urteil möglicherweise etwas anderes stecken könnte.
Dunkle Gründe der Macht
Einige Monate vor seiner Verurteilung appellierte Chodorkowski öffentlich an die russische Regierung, einige aufsehenerregende Vorfälle in der Ölbranche zu untersuchen: auf Korruption. Ausgerechnet er. Aus dem Munde eines Mannes mit der Biografie eines Chodorkowski klang ein solcher Aufruf zum Kampf gegen Korruption gewiss amüsant, wenn auch wenig überzeugend. Aber anstatt damit ironische Kommentare hervorzurufen, löste er aus irgendeinem Grunde bei den Machthabenden schmerzhafte Reaktionen aus.
Politik demontiert sich selbst
Kurz darauf wurde Chodorkowski öffentlich isoliert, „abgeschaltet“ und später scharf verurteilt. Hätte, um einen unbequemen Kritiker auszuschalten, nicht eine Strafe auf Bewährung wegen Steuerhinterziehung und weiterer Wirtschaftsverbrechen voll ausgereicht? Damit wäre Chodorkowskis Ruf im eigenen Lande wie auch im Westen ein für alle Mal geschädigt gewesen. Und er trüge nicht den Heiligenschein eines Märtyrers im Kampf um Gerechtigkeit auf der Seite der liberalen Opposition.
Ich halte das Urteil für überzogen hart und nicht angemessen angesichts der tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten des Landes. Am Ende haben sich die russischen Machthaber mit ihrer selektiven Vorgehensweise gegenChodorkowski bei gleichzeitiger Nachsicht gegenüber kriminellen Aktivitäten zahlreicher anderer Unternehmer und korrupter Beamter selbst geschadet. Sie trugen unfreiwillig zur Heroisierung Chodorkowskis bei, eines Menschen mit einer zweifelhaften und widersprüchlichen Vergangenheit, und stärkten die Position politischer Opponenten. Gleichzeitig büßten sie wegen der nicht von der Hand zu weisenden Korruptionsvorwürfe das Vertrauen der patriotisch gesinnten Lager ein.
Das Gerichtsurteil zeugt von einer bereits eingetretenen tiefen Krise sämtlicher Systeme unserer Staatsverwaltung. Es ist Zeugnis mangelnder Professionalität, beweist die Kurzsichtigkeit unserer Staatsbeamten und untergräbt letztlich die Autorität des Staates selbst. Um es mit den Worten Shakespeares zu sagen: „Something is rotten in the State of Denmark“ - und nicht nur dort.
Dmitrij Tulin, jetzt Partner von Deloitte, war unter anderem Vizechef der russischen Zen tralbank und Exekutivdirektor des Weltwährungsfonds in Washington.
Aus dem Wirtschaftsblog Slon.ru
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