In memoriam: Boris Jelzin

Zeichnung Niyaz Karim

Zeichnung Niyaz Karim

Die Welt kann sich glücklich schätzen, dass beim Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen Imperiums zwei intelligente und maßvolle Männer das Ruder in der Hand hielten. Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben. Trotz all der Schmach, die Boris Jelzin und Michail Gorbatschow in ihrer Heimat erdulden mussten, werden die beiden als positive, wenn auch etwas unbedarfte Führungspersönlichkeiten in die Geschichte eingehen.

Gorbatschows und Jelzins Wege waren, zu deren großem Leidwesen, untrennbar miteinander verbunden. Zu Beginn der Perestroika waren sie Verbündete, die die Stärken des anderen schätzten und sogar bewunderten, doch dann wurden sie zu erbitterten Rivalen, die das, was sie beim anderen als Fehler erachteten, zunehmend verabscheuten. Sie warfen sich gegenseitig vor, mit dem Strom der Geschichte geschwommen zu sein.

Zwei große Politiker

Gorbatschow erkannte die Sinnlosigkeit des Kalten Krieges und bereitete diesem ein Ende. Dabei verfolgte er das Ziel, dem sowjetischen System zu neuer Stärke zu verhelfen.  Dies ist ihm nicht gelungen. Jelzin erkannte die Absurdität des sowjetischen Systems und trug dazu bei, diesem ein Ende zu bereiten. Dabei verfolgte er das Ziel, dass die westlichen Staaten Russland als gleichwertigen Staat akzeptieren sollten. Dies ist ihm nicht gelungen. Andere Kräfte bestimmten den Ausgang des Kalten Krieges und das Ende der Sowjetunion, doch für das friedliche Management der jeweiligen Endspiele bedurfte es politischer Talente auf höchstem Niveau.  Durch seine Jahre als Generalsekretär der KPdSU in Swerdlowsk kannte Jelzin das Sowjetsystem von innen so gut wie kaum ein anderer. Doch wie bei vielen anderen war es die Begegnung mit der realen Welt, der Welt außerhalb der Sowjetunion, die ihm klar machte, wie sehr der Kommunismus gescheitert war. Auf seiner ersten Amerikareise zeigte sich Jelzin überrascht vom Angebot in einem gewöhnlichen Supermarkt und der Tatsache, dass es “Arbeitern” gestattet war, dort einzukaufen. Als er nach seiner Rückkehr einem seiner engsten Berater von diesen Wundern berichtete,  platzte es aus ihm heraus: „Unser System ist Scheiße!“ Diese Erkenntnis brachte ihn dazu, mit dem Sowjetsystem zu brechen.

Jelzins Charisma

Mit einigem Abstand betrachtet ist es schwierig, den politischen und persönlichen Mut zu erkennen, den ein Mitglied des Politbüros aufbringen musste, um einen offenen Bruch mit der Partei zu wagen und einen unabhängigen politischen Kurs zu beschreiten. Eigentlich hätte Jelzin daraufhin verschwinden müssen. Er hatte es seinem Charisma, seiner Unverfrorenheit und einer großen Portion Glück zu verdanken, dass er sich durchsetzen konnte - zunächst in Moskau und später als Präsident der Russischen Föderation. Jelzin hatte extremes Glück mit dem Timing und den unbeholfen agierenden Putschisten im August 1991. In diesem Augenblick wusste Jelzin genau, was er zu tun hatte. In der Folgezeit waren seine Instinkte und sein Handeln oftmals unangemessen. Man musste einfach einmal erlebt haben, wie groß Jelzins Charisma in einer Gruppe von Russen damals war. Dieser Mann brauchte einen Raum nur zu betreten, und schon zog er alle in seinen Bann. Im Gespräch mit einer bekannten amerikanischen Fernsehjournalistin verglich ich Jelzins natürliche Anziehungskraft und Männlichkeit einmal mit der von Lyndon Johnson. Sie erwiderte daraufhin: „Jelzin hat mehr!” Jelzin setzte großes Vertrauen in die Jugend und in talentierte Menschen mit “westlichen” Konzepten. Es war keinesfalls so, dass er dem russischen Patienten die vom Westen verordneten Anwendungen verpasste, vielmehr ging er nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor - so lange, bis etwas funktionierte. Bedauerlicherweise funktionierte nichts. 

Der Pyrrhussieg

Krisen beflügelten Jelzin, doch infolge seines mangelnden Durchhaltevermögens gelang es ihm nicht, die eingeleiteten Reformen tatsächlich bis zum Ende durchzuführen. Das pluralistische politische Leben ermüdete ihn. Obwohl Jelzin beim Referendum im April 1993 sein Volksmandat erneuern konnte, gelang es ihm in der Folgezeit nicht, es effektiv für die Durchsetzung einer Verfassungsreform zu nutzen. Im September verlängerte er mit Hilfe illegaler Methoden die Legislaturperiode, was zu seinem Pyrrhussieg am 4. Oktober führte. Dies bedeutete einen schrecklichen Rückschlag für die Rechtsstaatlichkeit in einem Land, das diese so bitter nötig hatte.  Jelzin war das Gefühl für die wirtschaftlichen Bedürfnissen und Ängste des Durchschnittsbürgers abhanden gekommen, was bei den Wahlen im Dezember 1993 klar zum Ausdruck kam, als Jelzins Team deutlich unterlag. Es ehrt ihn, dass er das Wahlergebnis akzeptierte, allerdings ist es ihm nie gelungen, mit einem Parlament, in dem kontrovers debattiert wurde, umzugehen. Jedem großen Staatsmann unterlaufen Fehler, bei Jelzin waren es allerdings zwei ungeheuerliche Fehler, die sein Ansehen dauerhaft überschatten werden.  

Der Tschetschenien-Krieg

Russland sah sich 1994 mit einem ernsthaften Problem im Nordkaukasus konfrontiert, bei dem die öffentliche Ordnung auf dem Spiel stand, doch als Moskau in der Folge einen Krieg gegen das tschetschenische Volk entfesselte, offenbarte man einen Mangel an Urteilsvermögen und humanitärem Denken und ließ Erinnerungen an den sowjetischen Führungsstil wach werden. Das in der Region angerichtete Blutbad stellte die politischen Reformen in Moskau in Frage und führte definitiv dazu, dass im Westen große Vorbehalte gegen Russland aufkamen. Jelzin hatte sich stets gewünscht, dass der Westen sein Land akzeptiert, da es den Kommunismus überwunden hatte. Einem Weggenossen gegenüber äußerte er sich dahingehend, dass die für ihn bedeutendsten Momente die Ereignisse im August 1991 und sein Auftritt in einer gemeinsamen Sitzung des US-Kongresses waren. In Europa und Amerika war der Tschetschenien-Krieg ein willkommener Anlass für eine neue Russophobie – hier zeigte Russland sein wahres Gesicht.

Jelzins zweiter Fehler bestand darin, dass er eine zweite Amtsperiode anstrebte, als ihm (und eigentlich jedem) bereits klar sein musste, dass er dazu nicht mehr in der Lage war. Bedauerlicherweise war Jelzin nur allzu leicht davon zu überzeugen gewesen, dass nur er eine Rückkehr der Kommunisten an die Macht verhindern konnte – eine Botschaft, die die Amerikaner geschickt lanciert hatten. Das war völliger Unsinn. Es gab unzählige Alternativen zu Jelzin. Keiner der Kandidaten wäre die Idealbesetzung gewesen und die meisten waren im Westen kaum bekannt, doch jeder von ihnen hätte den Sieg davontragen und seine Sache besser als Jelzin machen können, dessen letzte Jahre im Amt von unzähligen Misserfolgen geprägt waren und einer Farce glichen. Diejenigen, die sich an Jelzin in seinen besten Jahren erinnern konnten, empfanden den Kontrast als geradezu schmerzhaft.

Der Nachfolger

Wie würde Jelzin die Wahl seines Nachfolgers letztendlich selbst einschätzen? Er hat sicherlich bemerkt, dass Putin das Ende der postkommunistischen Übergangszeit einläutete und den russischen Führungsstil auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, prägte.  Meinte er, keine andere Wahl zu haben? Glaubte er, sich verschätzt zu haben? Oder ging er davon aus, dass Russland infolge der Ereignisse wieder ins bekannte Fahrwasser zurückgekehrt war? Wenn man all diese Punkte bedenkt, weshalb sollte man die Verdienste von Boris Jelzin trotz allem mit Respekt betrachten? Vor allen Dingen deshalb, weil er, Gott sei Dank, die Antithese eines russischen Slobodan Milošević war.  Wir alle haben von Jelzins Leistungen während der kritischen Monate 1991 und 1992 profitiert. Zudem sollten wir Jelzin stets wegen seines Weitblicks in positiver Erinnerung behalten, auch wenn er nicht all seine Visionen in die Tat umsetzen konnte. Jelzin war ein russischer Präsident, der auf sehr beeindruckende Weise dem russischen Volk furchtlos gegenübertrat. Wenn es gelingen sollte, das russische Volk in welcher Form auch immer politisch und wirtschaftlich zu stärken, dann würde alles gut – daran glaubte er. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie dies erreicht werden sollte.

Die Angst vor Demokratie

Aleksandr Jakowlew bezeichnete seinen Mentor Gorbatschow als einen Demokraten, der von Natur aus für die Demokratie eintrat, auch wenn er sie stets fürchtete. Jelzin hingegen war kein Demokrat von Natur aus, dafür hatte er keine Angst vor der Demokratie in seinem Land. Er wollte sein Volk keineswegs mobilisieren, einspannen, disziplinieren oder kontrollieren, er wollte es vielmehr stärken. Dies ist ihm nicht gelungen. Jelzin war nicht in der Lage, seine Vision umzusetzen, zum einen, weil die Aufgabe immens war, zum anderen, weil so wenige der sogenannten demokratischen Kräfte in Russland seinen Glauben an das Volk teilten. Immer wieder wurde berichtet, dass einer von Jelzins engsten Vertrauten im Kreml das russische Volk einmal als “Misthaufen der Geschichte” bezeichnet haben soll. Einem Axiom zufolge ist jede politische Karriere letztendlich zum Scheitern verurteilt.  Auch Jelzin scheiterte, doch wie lange wird es wohl dauern, bis Russland wieder eine nationale Führungspersönlichkeit hervorbringt, die das Volk stärken statt mobilisieren möchte?

Wayne Merry war 1991 – 1994 Leiter der für die innenpolitische Berichterstattung zuständigen Abteilung der US-Botschaft in Moskau.

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