Alle guten Dinge sind drei

Auf der 61. Berlinale geht es gleich drei Mal um Russland: Zwei russische Produktionen - nämlich Alexander Mindadzes Psychodrama „An einem Samstag“ (Innocent Saturday) und die Antiutopie „Die Zielscheibe“ (Target) von Alexander Seldowitsch - bilden gemeinsam mit dem deutschen Streifen „Chodorkowski“ eine Trilogie über das Gestern, Heute und Morgen des größten Landes der Erde.

Während man in den letzten Jahren russische Berlinale-Beiträge vergeblich suchte, steht Russland bei der 61. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele erneut im Fokus, und zwar nicht wie bisher als Land der Mysterien und Unerklärlichkeiten, sondern als geopolitisches Phänomen, was dem internationalen Image des russischen Kinos zweifelsohne guttut. Filme über „die rätselhafte russische Seele“ und „diese seltsamen Russen“ werden, wenn schon nicht ganzlich verdrängt, endlich durch Werke über das moderne Russland ergänzt. Sie arbeiten sowohl die Wunden der jüngsten Vergangenheit auf, bemühen sich um Dokumentation der Gegenwart und wagen schließlich einen Blick in die Zukunft. Gerade diese politische wie historische Selbstwahrnehmung fehlte bislang der russischen Kinematografie. Sie thematisierte zwar durchaus Vergangenes, blieb dabei aber oft im Extremen, Mystischen, unwiederbringlich Verflossenen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die schmalzigen patriotischen Blockbuster, die es in Hülle und Fülle zu sehen gibt, den „kleinen Geschichten“ jedoch, die sich vor unseren Augen abspielen und unser Leben bestimmen, denen steht man in Russland sonst gleichgültig gegenüber.

Man erinnert an Tschernobyl

„An einem Samstag“ ist die zweite Regiearbeit des renommierten Dramatikers und Drehbuchautors Alexander Mindadze. Die Handlung beginnt am Morgen jenes denkwürdigen 26. April des Jahres 1986, dem Tag des Reaktorunfalls im Atomkraftwerk Tschernobyl, und umfasst die ersten vierundzwanzig Stunden der Tragödie – jene Zeitspanne des Erschreckens und der Irritationen, als noch niemand begriff, was wirklich geschehen war. Die Stunden, in denen nur ganz wenige ahnten, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Die Welt nach einer Katastrophe, einer Havarie, einem fatalen Fehler, dieses Motiv zieht sich durch Mindadzes Drehbücher wie ein roter Faden: Ein Zug, der um Haaresbreite entgleist, in „Pojesd ostanowilsja“ (Der Zug hält), ein gesunkenes Passagierschiff in „Armawir“ (Armawir), der Tschetschenien-Krieg in „Wremja tanzora“ (Die Zeit des Tänzers), ein Flugzeugabsturz in „Otryw“ (Soaring). Alexander Mindadze beschäftigt sich weniger mit den Ursachen, als vielmehr mit den Folgen, den verheerenderen, anhaltend bösen Konsequenzen des Geschehens.

Tschernobyl ist längst zu einer Metapher geworden, wenn nicht für den Untergang unseres Planeten, so doch mit Sicherheit für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Es ist eine verbrannte tote Zone, die wie ein giftiger Stachel im Fleisch der Lebenden steckt. Alexander Rodnjanski drehte als erster Regisseur unmittelbar nach dem GAU in Tschernobyl. Diese Bilder gingen später in seine Dokumentation „Letzter Abschied, UdSSR“ (Last Farewell, USSR) ein. Alexander Mindadzes Wettbewerbsfilm „An einem Samstag“ ist gleichfalls eine Art Abgesang auf die Sowjetepoche, die möglicherweise im Dunkel der Geschichte verblassen, aber dennoch Spuren hinterlassen wird. Oleg Mutu, der meisterhafte Kameramann, setzt sie so detailreich wie präzise ins Bild. Er zeichnet die sowjetische Realität nicht im Retrostil, sondern sucht ihr Echo im Hier und Heute. Er vermittelt überzeugend, wie sehr das untergegangene Staatengebilde immer noch das Leben bestimmt.

Deutsche Doku über Chodorkowski

Die Unerbittlichkeit des Laufs der Dinge wird auch in dem deutschen Dokumentarstreifen „Chodorkowski“ plastisch. Die Idee, einen Film über Russlands prominentesten Häftling zu drehen, kam Regisseur Cyril Tuschi im Jahre 2005, als am Kinofestival „Spirit of Fire“ in Chanty-Mansijsk teilnahm, über den augenfälligen Reichtum der sibirischen Boom Town stolperte und erfahren musste, dass die Quelle des ganzen Luxus' nicht mehr sprudelte. Das Erdölunternehmen JUKOS war zerschlagen, sein Gründer saß hinter Gittern.

Das Aufnahmeteam interviewte neben Familienangehörigen Michail Chodorkowskis auch Weggefährten aus der JUKOS-Zeit und Persönlichkeiten des politischen Lebens in Russland. So entstanden 180 Stunden Material für einen Film, dessen geografische Ausdehnung von Moskau über New York bis zum sibirischen Arbeitslager Tschita, in dem Chodorkowski einsaß, reichte. Dokumentiert wird gleichfalls das unmittelbar im Moskauer Gerichtssaal aufgenommene Gespräch mit Chodorkowski selbst. Es ist das einzige Videointerview des Ex-Magnaten seit seiner Inhaftierung. Um einige Episoden – wie etwa die Festnahme Chodorkowskis auf dem Flughafen von Nowosibirsk – darzustellen, setzt Regisseur Cyril Tuschi auch Animationstechniken ein. Ihm gehe es vor allem darum, die Persönlichkeit und das Charisma Michail Chodorkowskis zu ergründen, äußert sich Tuschi zu seinem Projekt. Über dessen Schuld oder Unschuld wolle er nicht befinden. Doch politisch oder iideologisch geprägte Polemik wird  bei dem zweistündigen großformatigen Streifen nicht ausbleiben. Das gilt zumindest für Russland, wo der politische Dokumentarfilm als Gattung bisher keine Tradition hatte. Darauf deutet auch der Vorfall hin, der um Cyril Tuschis Chodorkowski-Film bereits vor der Weltpremiere  einigen Wirbel verursacht hatte: In der Nacht vom 2. zum 3. Februar brachen Unbekannte in die Berliner Arbeitsräume des Regisseurs ein und entwendeten den Computer mit dem originalen Cirector's Cut. Zum Glück bekam die Festivalleitung schon eine vorführfähige Kopie. Die muss nun streng bewacht werden.

Russland im Jahr 2020

Der dritte Streifen, der sich mit Russland beschäftigt, steht für Spielfilme, die sogar mit politischen Metaphern operieren und nicht davor zurückschrecken, einen Blick in eine obskure Zukunft zu wagen. Glaubt man Alexander Seldowitsch, der zusammen mit Wladimir Sorokin das Drehbuch für „Die Zielscheibe“ verfasste, dann wird Russland im Jahre 2020 ein blühendes Land sein. Aber der wichtigste Rohstoff wird schon lange nicht mehr Erdöl oder Erdgas sein, sondern ein seltenes und kostbares Element - das Metall Runium. Das einzigartige Runium ist so wertvoll, dass es Gold und Platin den Rang abläuft. Doch die Zukunft hat auch Schatten. China ist nicht nur zum wichtigsten Handelspartners aufgestiegen, sondern das Land der Mitte hat Russland faktisch kolonialisiert. Alle Schilder und Wegweiser sind zweisprachig –russisch und chinesisch – beschriftet. Die Menschen in Russland haben das Chinesische fast schon als Muttersprache angenommen. Hauptstadt des Landes ist die Megacity „Moscow City“, und ein wahnsinniger Konsumrausch bestimmt das Leben. Die Reichen besitzen alles, sogar Scanner-Sonnenbrillen, die das Gehirn des Gegenübers auslesen können und anzeigen, ob und wie viel Gutes und Böses in jedem Mitmenschen steckt, wobei das Gute und Edle natürlich immer seltener wird. Selbst die ewige Jugend scheint kein Ding der Unmöglichkeit mehr zu sein. Um sie zu erlangen, müssen die Protagonisten des Films in das Altaigebirge aufbrechen, wo noch aus sowjetischen Zeiten eine verlassene, inzwischen marode Basis existiert. Dort gibt es eine kosmische Apparatur, eben jene „Zielscheibe“, die das Altern stoppen kann. Die Helden des Films ahnen jedoch nicht, dass die Radioaktivität dieser Scheibe nicht nur Jugendlichkeit verleiht. Sie besitzt zugleich eine furchtbare, Verderben bringende Wirkung, die dem vergessenen GAU von Tschernobyl in nichts nachsteht. Und genau hier verschränkt sich die lichte Zukunft mit der katastrophalen Vergangenheit, gegen deren zerstörerische Macht keine Stabilität der Welt anzukommen scheint. Drei Mal Russland, drei verschiedene Genres auf der Berlinale. Wir dürfen gespannt sein!

Dieser Artikel erschien zuerst bei "Russkij Reporter".

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