Ich glaube, mir ist ganz wenig zeit geblieben

In memoriam: Anna Jablonskaja Foto: ITAR TASS

In memoriam: Anna Jablonskaja Foto: ITAR TASS

Unter den Opfern des Terroranschlags auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo am 24. Januar befand sich auch die Dramatikerin Anna Jablonskaja. Sie war nach Moskau geflogen, um einen Theaterpreis in Empfang zu nehmen. Doch sie kam nie an.

Die ganze Nacht versuchten Angehörige und Freunde sie zu erreichen. Irgendwann meldete sich ein Mitarbeiter des Geheimdienstes ... Anna Jablonskaja, die eigentlich Maschutina hieß, wäre diesen Sommer 30 Jahre alt geworden; sie hinterlässt in Odessa ihren Ehemann und eine dreijährige Tochter.

Erfolg und Anerkennung

Die ukrainische Autorin und Lyrikerin, die eigentlich internationales Recht in Odessa studiert hatte, schrieb in russischer Sprache. 2004 erschien die Debütantin auf der Longlist der Literaturkritik, ab da ging es steil bergauf: 2006 Einladung auf die Theaterbiennale in Wiesbaden, im selben Jahr das Springdance Festival in Utrecht, letztes Jahr war sie am Londoner Royal Court Theatre zu Gast, das im April ihr letztes Stück „Die Heiden“ als szenische Lesung zeigt. Nicht nur die Moskauer Off-Szene brachte ihre Stücke heraus, auch etablierte Theater und das Kino waren auf die junge Frau aus Odessa aufmerksam geworden. „Mit ihr“, schreibt die russische Zeitung Moskowskij Komsomolez, „starb möglicherweise die Zukunft der russischen Kultur.“

Was genau ist es, das ihre Stücke, Gedichte, ihre Prosaskizzen kennzeichnet, sie so besonders macht? Egal ob sie schreiend komisch, schrill oder leise angestimmt sind, bei aller Verzerrtheit ist stets ein trauriger Kontrapunkt zu hören. Ihre Figuren sind entfremdet, 
verstrickt, meist unglücklich, brüchige Existenzen allemal –
gezeichnet sind sie jedoch aus 
komisch-grotesker Perspektive. Auffallend ist die starke Bildlichkeit der Texte. Stoffe und Locations entstammen ganz dem heutigen postsowjetischen Russland und der Ukraine.

Der Blick durch den Zerrspiegel Gogols 

Dennoch ist da eine frappierende Nähe zu Nikolaj Gogol, Jablonskajas großem Landsmann aus dem 19. Jahrhundert. Parallelwelten tun sich plötzlich im Alltag ihrer Figuren auf und lassen sie ins Phantastische oder Metaphysische stürzen. Wie durch Gogols berühmten Zerrspiegel blickt Anna Jablonskaja auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt.

Ihr Stück „Ödland“ handelt von einem Mann, der nach Armeedienst und Krieg mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt. Wer aber denkt, er hätte nun ein psychologisches, düsteres Drama vor sich, irrt gewaltig. Denn alles ist überzeichnet und ins Absurde gekippt. Der Protagonist Zenturio lebt einerseits im heutigen Russland, in seiner Phantasie ist er aber Legionär des römischen Reiches zur Zeit seines Niedergangs. Beide Ebenen vermischen sich rasch, der Ex-Soldat von heute findet in einer Kläranlage eine römische Uniform, zieht seine Familie mehr und mehr in die andere Realität und soll schließlich von einem abstrusen Heiler erlöst werden, der schon in römischer Zeit als christlicher Sektierer Wunder tat.

Was bleibt, ist das groteske Drama einer Welt mit vertikalen Machtstrukturen, in der Menschen als Sklaven zum Kämpfen und Töten herangezüchtet werden. In „Die Concierge“ zieht Jablonskaja noch mehr Register. Sie schrieb es in Shakespear‘schem Versmaß, inhaltlich macht sie jedoch Anleihen bei James Bond und dem Action-film.

Traurigkeit unter der komischen Oberfläche 

Ihre Texte sind krass, dabei jedoch feinfühlig und hellhörig. Sie hat dem Volk genau aufs Maul geschaut, mit wenigen Strichen zeichnet sie ihre Figuren so lebendig, dass man selber mitfährt im Liegewagen Kiew-Moskau und mit der 80-jährigen Frau vom Dorf an der Grenze aus dem Zug geholt wird, weil sie keinen Schimmer hat von den politischen Entwicklungen –  nur ihren alten 
sowjetischen Pass, der zum Relikt einer alten Welt geworden ist. Unter der komischen Oberfläche liegt auch hier die alte Traurigkeit, Anna Jablonskaja kannte sie gut. Ihr Blog im Internet spricht oft vom Tod und von der Ahnung, dass ihr nur noch wenig Zeit bleibe. So war es denn auch.

Ruth Wyneken ist DAAD-Dozentin für Dramaturgie in Moskau und Expertin für russisches Theater. 

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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