Eine Gesellschaft mit zwei Gesichtern: die „neuen“ russischen Senioren, die den strengen Winter in Ägypten und Tunesien verbringen ... Foto: Alexandr Chizhenok_Kommersant
Unter den russischen Touristen, die Mitte Januar wegen der Unruhen in aller Eile Tunesien verließen, waren auffallend viele ältere. Im Rahmen des Senioren-Reiseprogramms „Winter in Tunis“ hatten sie die Wintermonate in einem wärmeren Land verbringen wollen – ohne zweistellige Minusgrade.
Mit den Zugvögeln gen Süden
Seit der Jahrtausendwende überwintern Senioren aus Russland vermehrt in südlichen Gefilden. Denn – so stellten sie fest – das steigert nicht nur die Lebensqualität, es ist auch bezahlbar. Die Kosten für einen Dreimonatsaufenthalt in Tunis belaufen sich auf 65 000 Rubel, also knapp 1600 Euro. „Die Ruheständler bezahlen hier ungefähr 700 Rubel – etwa 17 Euro – pro Tag, ein Erholungsheim im Moskauer Umland kostet dagegen 1200 Rubel“, erklärt Alexander Orlowski, Direktor eines Touristikunternehmens, das seit drei Jahren Langzeitreisen für Senioren nach Tunesien anbietet, Tendenz steigend: „Die alten Menschen gehen auf Besichtigungstour, lassen sich die Meeresbrise um die Nase wehen, genießen Wellness- und Heilbehandlungen, während sie zu Hause in der Wohnung hocken und sich nur zum Brotholen auf die spiegelglatten Straßen trauen.
Neben Tunesien überwintern die Russen gerne in der Türkei, Montenegro, Bulgarien, Spanien, Griechenland, Italien und Zypern. Insbesondere die Moskauer konnten erfahren, dass sie für einen langen Auslandsaufenthalt einfach ihre eigene Wohnung zu vermieten brauchen. Das reicht für die Reisekosten und einiges mehr.
Das Alter – eine Chance für Entdeckungslustige
Als die 57-jährige Moskauerin Larissa Petrowa mit 55 in Rente ging, brach sie sofort nach Goa auf. „Das war schon immer mein Traum, aber von einem Lehrergehalt kann man keine großen Sprünge machen. Jetzt habe ich meine Wohnung vermietet und in den letzten beiden Jahren in Indien, der Türkei und Montenegro gelebt. Larissa plant noch eine lange Reise durch Europa, mit Stationen in Frankreich, Spanien und Italien, danach will sie nach Moskau zurückkehren und sich um die zwei Enkelkinder kümmern.
Sie ist Vertreterin einer neuen Generation Rentner, die auch in der postsowjetischen Zeit noch berufstätig waren und einiges von ihrem Verdienst beiseitelegen konnten. Sie stehen materiell passabel da und unterscheiden sich gravierend von den Großmüttern, die ihre Zeit auf der Bank vor der Haustür zubrachten. Die neuen Rentner Russlands haben gelernt, mit Computer, Internet und Onlinebanking umzugehen.
„In Russland hat sich eine Mittelschicht herausgebildet“, konstatiert Nikita Mkrtschjan, Migrationsforscher an der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Diese Leute verfügen über Ersparnisse und rentable Immobilien. In den 1990er-Jahren sind sie nicht ins Ausland gefahren, weil es unerschwinglich erschien. Jetzt ist Russland teurer.“ Ihre Rente können sie per Antrag auch außerhalb des Landes in Empfang nehmen und bargeldlos operieren – was vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre.
Kein Ticket für die Rückfahrt
Nach ein, zwei Jahren Auslandsaufenthalt haben sich einige Ruheständler entschlossen, ganz zu bleiben. Jelena Degtewa, eine Rentnerin aus dem westrussischen Kaluga, lebt seit sechs Monaten im türkischen Mahmutlar, zehn Kilometer von der Urlauberhochburg Alanya entfernt. Mit 63 Jahren ist sie zur Aussteigerin geworden: Ihren Unterhalt bestreitet sie von den 600 Dollar, die ihr die Vermietung ihrer Wohnung in Kaluga monatlich einbringt. „Vor einem halben Jahr habe ich meine Datscha verkauft und mir dafür die Wohnung in Mahmutlar zugelegt“, erzählt die Seniorin. „Alle Nachbarn sind Türken, deshalb lerne ich nach und nach die Sprache. Für den Alltag reicht es schon.“
Jelena Degtewa hat nicht vor, offiziell auszuwandern, aber auch an eine Rückkehr nach Russland denkt sie gegenwärtig nicht. Ihren Aufenthalt in der Türkei regelt ein Gastvisum, für das sie 400 Dollar pro Jahr bezahlt. „Hier hat mein Leben neue Impulse erhalten“, erklärt sie. „Und in der Türkei kommt man ohne nennenswerte Einschränkungen mit 600 Dollar im Monat aus. In Russland kann man von so einem Betrag nur schlecht leben.“
Aus dem Verkaufserlös einer kleinen Wohnung in einem Moskauer Fünfgeschosser aus der Chruschtschow-Zeit bekommt man in Bulgarien ein solides Haus samt einem Stück Land. Diese Tatsache und die steigenden Lebenshaltungskosten treiben viele Rentner ins Ausland.
Für ein geregeltes Leben
Und es gibt noch einen dritten Grund, so der Psychologe Pawel Ponomarjow: „Für Menschen über sechzig bedeuten Stabilität und eine gute medizinische Versorgung sehr viel. Hier ist das Leben instabil, die Renten sind niedrig und in den staatlichen Polikliniken geht nichts ohne Warteschlange. Auch finanziell besser gestellte Rentner beklagen sich über das Gesundheitssystem, ihnen ziehen private Kliniken schamlos das Geld aus der Tasche. Die Senioren gehen in den Westen, um sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu fühlen.“
Viele Rentner, die Russland verlassen haben, wären liebend gern geblieben. „Doch bei uns betrachtet man sie nach wie vor als Menschen, die den Rest ihrer Tage nur so herumbringen.“ Sie fühlen sich schutzlos und überflüssig. Damit die Ruheständler nicht ins Ausland flüchten, so Ponomarjow, müsse sich in erster Linie die Einstellung zum Alter ändern. Noch immer hieße es in offiziellen Dokumenten der Russischen Föderation „Ablebensalter“.
An natürlichen Ressourcen hätte Russland durchaus einiges zu bieten. Seien es die heilkräftigen Mineralquellen des Kaukasus, die urtümlichen Nadelwälder mit ihrem unvergleichlichen Geruch rund um den Ladogasee oder die heißen Quellen auf der Halbinsel Kamtschatka. Dazu gleich zwei Meere mit mildem mediterranem Klima. In Russland gibt es alles für ein erfülltes und zufriedenes Alter. Nur glückliche Senioren sieht man wenig.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin Itogi.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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