Michail Gorbatschow – zu Hause ein Fremder?

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Michail Gorbatschow brachte die Demokratie nach Russland und veränderte das Weltbild nachhaltig. Zu Hause ist seine Person aber immer noch sehr umstritten. Pawel Palaschtschenko, der Pressesprecher des Gorbatschow-Fonds und ein Vertrauter von Michail Gorbatschow erklärt, warum.

Die These, dass Michail Gorbatschow weltweit – und zwar nicht nur in den reichen Ländern der „Goldenen Milliarde“ – hoch geschätzt, zuhause dagegen noch immer verkannt und unterbewertet wird, ist heute bereits ein Allgemeinplatz.

Ich kenne Gorbatschow seit vielen Jahren und sehe keinen Anlass, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Eine Argumentation, die auf die Behauptung hinausläuft, der letzte Präsident der UdSSR habe eben „Pech gehabt mit dem Volk“, wäre für ihn schlechterdings unannehmbar. Gleichwohl lässt sich die Diskrepanz in der Wahrnehmung Michail Gorbatschows im eigenen Land und im Ausland nicht erschöpfend erklären, wenn man die Besonderheiten des russischen Nationalcharakters und die Geschichte Russlands ausklammert.

Als Gorbatschow an die Macht kam, wollten alle Veränderungen. Doch der überwiegenden Mehrheit fehlte eine klare Vorstellung, wie diese Veränderungen denn aussehen sollten. Es überwog die traditionelle russische Hoffnung auf den „gütigen Herren“, den „guten Zaren“, der es schon richten wird. Bei vielen Menschen wäre so gut wie jedes entschlossene, energische Handeln des neuen Mannes an der Spitze als Beginn des herbeigesehnten Wandels durchgegangen.

Das Argument, Gorbatschow habe „keine Wahl gehabt“, ist haltlos. Seinerzeit grassierte unter den politisch Verantwortlichen eine Art Schattenideologie, die Elemente des russischen Nationalismus mit einer imperialen Geopolitik verband. Vor diesem Hintergrund hätte ein Kurs der Durchsetzung „straffer Disziplin“ sowie „elementarer Ordnung“ durchaus nahe gelegen und nachgerade zu einem Regime à la Nicolae Ceaucescu geführt.

Michail Gorbatschow wählte jedoch eine weitaus weniger augenfällige Variante und gewann dafür auch das konservative Politbüro, das ihm als „Erbe“ zugefallen war. Gorbatschow wollte, dass die von oben begonnene Perestroika von unten mitgetragen wird, und zwar nicht in Form eines allgemeinen Abnickens, sondern durch Freisetzung der Initiative von Millionen Bürgern. Obwohl er zunächst versuchte, sein Vorhaben im Rahmen des bestehenden Systems zu verwirklichen, entwickelte Gorbatschow schon zwei, drei Jahre später das Konzept einer grundlegenden Demokratisierung, das er gleichfalls noch im Politbüro durchsetzen konnte. Dieses Politbüro hatte sich gewandelt, war aber, wie bald darauf zutage treten sollte, nicht eingestellt auf die Instabilität und Verunsicherung, die schmerzhaften Veränderungen und Unwägbarkeiten, die reale Reformen unvermeidlich mit sich bringen.

Nicht vorbereitet war auch die – weiterhin schweigende – Mehrheit der Menschen. Sie wussten nichts anzufangen mit der wachsenden Freiheit, hofften nach wie vor weniger auf sich selbst denn auf ein Wunder, eine „feste Hand“, einen „entschlossenen Führer“. Das erklärt sowohl den immensen Zuwachs an Popularität für Boris Jelzin als auch die bis heute fortbestehende Fehleinschätzung Michail Gorbatschows in Russland.

Paradoxerweise verlor Gorbatschow zuerst den aktiven, gebildeten Teil der Bevölkerung – in den Unionsrepubliken an die Nationalisten, in Russland an Jelzin. Die Intelligenzija, die mehr und früher als alle anderen von der gewährten Freiheit profitiert hatte, nutzte sie jetzt, um ein grandioses „Fest des Ungehorsams“ zu inszenieren.

Im Überschwang dieses Festes taten sich die neuen Entscheidungsträger leicht mit der vorschnellen Auflösung der Sowjetunion. Vorschnell deshalb, weil es in keiner einzigen Unionsrepublik reale Institutionen einer demokratischen Politik, eine Zivilgesellschaft oder Marktwirtschaft gab. Der Zerfall der Sowjetunion und die nachfolgende Etablierung durch autokratische Machtausübung und Scheindemokratie gekennzeichneter Regimes hat die Herausbildung dieser Institutionen nicht beschleunigt, sondern gebremst. Das steht heute, zwanzig Jahre später, außer Zweifel, nur wollen es die wenigsten wahrhaben. Für die Bürger vieler ehemaliger Sowjetrepubliken wird die Mühsal der letzten zwei Jahrzehnte immerhin noch kompensiert durch den Aufschwung des Nationalgefühls, des nationalen Stolzes auf die erlangte Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu Russland. Russland ist die einzige Republik, deren Bürger laut Umfragen den Zerfall der Sowjetunion mehrheitlich als Verlust ihrer „großen Heimat“ empfinden.

Auf der Suche nach einem Schuldigen zeigen die unterschiedlichsten Personengruppen unisono auf Michail Gorbatschow: Die Kommunisten, die im Obersten Sowjet für die Beloweschsker Verträge zur Auflösung der UdSSR stimmten, und die Radikalen, die alles unterstützten, was die Zentralgewalt schwächte. Aber auch die normalen Bürger, die mit keiner Wimper zuckten, als sie erfuhren, dass ihr Land aufgehört hat zu existieren. Die einen schelten Gorbatschow dafür, dass er seine Macht nicht gebrauchte, um den Separatismus zu unterdrücken. Andere behaupten – wie ich persönlich von einem ehemaligen Jelzin-Mitstreiter gehört habe –, die Sowjetunion wäre rettbar gewesen, wenn Michail Gorbatschow bereits nach dem Putsch des Staatskomitees für den Ausnahmezustand im August 1991 die Führung an Boris Jelzin abgetreten hätte. Und wieder andere hegen einfach eine dumpfe Abneigung gegen Gorbatschow.

Gleichzeitig nutzen die Menschen sehr wohl die Rechte und Freiheiten, die ihnen in den Jahren der Perestroika gewährt wurden. Freiheit des Unternehmertums, Glaubens- und Reisefreiheit, Freiheit des Wortes (in den vom Staat abgesteckten Grenzen) und Versammlungsfreiheit werden als Selbstverständlichkeiten betrachtet, für die man niemandem danken muss. Ja auf die sich sogar noch trefflich schimpfen lässt, wie es etwa Alexander Solschenizyn tat, von dem der Satz stammt: „Die Gorbatschow’sche Glasnost hat alles zugrunde gerichtet.“

Solschenizyn ist keineswegs der Einzige, dem verborgen blieb, dass sich die ungeduldigen Forderungen der frühen 1990er Jahre und die Vorwürfe, die nach Gorbatschows Amtsverzicht gegen ihn laut wurden, offensichtlich widersprechen. Nicht einmal den eigentlichen Abgang, der dem Land womöglich kolossale Erschütterungen erspart hat, haben Volk und „Elite“ entsprechend gewürdigt. Für beide zählen in der Geschichte Russlands weniger Herrscher wie Alexander II., der den Bauern die Freiheit gab, als vielmehr Iwan der Schreckliche, Peter der Große und Stalin.

Das möchte ich keinesfalls als Ressentiment gegenüber der Bevölkerung verstanden wissen. Die Geschichte hat uns zu denen gemacht, die wir sind. Mentalität und nationale Eigenheiten ändern sich weitaus langsamer als die materielle Kultur. Doch ohne geistige Aufarbeitung des Problems kommt man einer Lösung nicht einmal auf Sichtweite näher. Und die Kluft, die zwischen der Beurteilung Michail Gorbatschows in Russland und seiner Wahrnehmung in den meisten anderen Ländern besteht, ist zweifellos ein Problem. Kein Problem Gorbatschows, wohlgemerkt, sondern ein Problem Russlands. Der Bedeutung dieses Mannes für die russische wie für die internationale Geschichte gerecht zu werden, heißt einen großen Schritt voranzukommen bei der Integration unseres Landes in die Weltgemeinschaft. Umfragen zeigen, dass ein derartiges Umdenken langsam, aber sicher einsetzt. Vollenden wird es sich mit der Durchsetzung von Demokratie und Freiheit in Russland.

Pawel Palaschtschenko ist der langjährige Übersetzer von Michail Gorbatschow und der Pressesprecher des Gorbatschow-Fonds. 

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