Maskerade mit NATO-Unterstützung

Aufstand in Libyen. Foto: Reuters

Aufstand in Libyen. Foto: Reuters

Die Situation in diesem arabischen Land ist extrem instabil. Und auch die Luftangriffe der NATO können nicht zu einem Sieg der Aufständischen führen. In Libyen herrscht Chaos. Der Militärfotograf Jurij Kosyrew, der – mit einigen kurzen Unterbrechungen – eineinhalb Monate in Libyen im Einsatz war, berichtet der „Russkij Reportjor“ über seine Beobachtungen und die daraus folgenden Konsequenzen.

Vor nicht allzu langer Zeit, am 28. März, dachten die Aufständischen, der Sieg sei greifbar nahe. Der Marsch auf Gaddafis Heimatstadt Sirt glich mit seinen Picknicks und Freudenschüssen in die Luft weniger einem Kreuzzug als vielmehr einem touristischen Event. Tausende von Menschen verteilten sich über mehrere Kilometer auf der schmalen Straße und hofften, bis Tripolis vordringen zu können. Doch am 30. März standen Gaddafis Truppen, die fast alle zuvor verlorenen Städte zurückerobern konnten, bereits bei Aschdabia, 160 km von Bengasi, der Hauptstadt der Aufständischen, entfernt.

Drei Wochen lang war ich auf dieser Straße unterwegs, bewegte mich auf der fiktiven Frontlinie zwischen Bengasi und Sirt vor und zurück. Alle wichtigen Ereignisse des Krieges ereignen sich zwischen den beiden Enden dieses Verkehrsweges, der am Meer entlang führt und die konkurrierenden Hauptstädte Bengasi und Tripolis miteinander verbindet. Direkt hinter der Straße beginnt die Wüste. Eine Frontlinie im eigentlichen Sinne ist nicht vorhanden: Die Loyalität der kleineren, an der Strecke liegenden Städte hängt voll und ganz vom Vormarsch der Truppen bzw. Menschenmassen auf dieser Trasse ab – es ist ein ständiges Hin und Her. 

Brega und andere Städte, in denen Öl gefördert und verarbeitet wird, waren von den Bombardements der NATO und der libyschen Regierung praktisch nicht betroffen. Nur ein Fall wurde bekannt, bei dem jemand (vermutlich Aufständische) auf Treibstofftanks schoss. 

Kaum jemand von diesen „Aufständischen“ ist tatsächlich bereit zum Kämpfen. Die meisten von ihnen sind einfache Demonstranten, denen eine Waffe in die Hand gedrückt wurde, und die telegene Lederjacke oder Uniform haben sie sich bei ihrem Vater oder dem älteren Bruder ausgeliehen. Unter ihnen befinden sich auch Militärs, Überläufer aus Gaddafis Armee, allerdings sind es nicht viele, und auch fanatische „Krieger im Namen Allahs“, womöglich sogar aus anderen Ländern, doch macht das keinen Unterschied.

Die Aufständischen können weder systematisch vorstoßen noch sich zurückziehen. Die meisten Verluste personeller und ausrüstungstechnischer Art mussten sie genau deshalb erleiden, weil sie einfach nur eine Ansammlung von Menschen sind. Beim kleinsten Hinweis auf beginnende Bombardements ziehen sich Tausende von Menschen zurück. Dies konnte ich oftmals beobachten: Eine bewaffnete Menschenmenge schreitet wacker auf der Straße voran, doch sobald sie sich einem Kampfort nähern, bleiben viele von ihnen kilometerweit zurück und niemand kann ihnen den Befehl zum Weiterziehen erteilen.

Zunächst konnte ich Gaddafis Taktik nicht recht einschätzen: Seinen Angriffen gehen stets Warnungen voraus, Bombardements in der Nähe des Ziels, irgendwo am Straßenrand. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, Hunderte von Aufständischen zu töten, die sich in einer kompakten Gruppe bewegten – doch dies war vermutlich überhaupt nicht beabsichtigt. Schon die warnenden Bombardements reichten aus, die Menge in die Flucht zu schlagen.

Die Ankunft der westlichen Militärberater sorgte für mehr Ordnung und Disziplin in den Reihen der Aufständischen und man versucht, Fachleute in die Truppe einzubeziehen. Allerdings dürfte es kaum möglich sein, eine Menschenmenge in eine Armee zu verwandeln. Der schnelle Gegenangriff Gaddafis kam für sie völlig überraschend.

Durch die Bombardements des Westens veränderte sich auch die Taktik von Gaddafis Armee: Sie stieg von Panzern und gepanzerten Kampffahrzeugen auf normale Kraftfahrzeuge um, eben solche Jeeps und Lastwagen, die auch die Aufständischen benutzen. Dies ist möglicherweise der Grund dafür, dass kürzlich Flugzeuge der Alliierten aus nächster Nähe versehentlich Aufständische bombardierten, als Antwort auf ein vermeintliches Flugabwehrfeuer. Sie hielten die Aufständischen für Gaddafi-Anhänger,  wozu diese selbst in nicht unerheblichem Maße beigetragen hatten, da sie aufgeregt in die Luft feuerten – doch Sie werden mir zustimmen, dass es nicht gerade klug ist, ein Flugzeug der befreundeten Alliierten mit Schüssen in dessen Richtung zu begrüßen.

Trotz dieser scheinbaren Maskerade findet hier ein echter Krieg mit vielen Toten und Verletzten statt. Am vierten Tag der Operation konnte ich das Resultat eines Bombardements der Alliierten mit eigenen Augen betrachten. Entlang der Straße standen zerstörte Panzer und überall lagen getötete „Kämpfer der Dschamahiriyya“ – Kinder im Alter von 18 – 20 Jahren.

Auf Seiten der Aufständischen in Bengasi gibt es sehr viele Verwundete. Die Krankenhäuser sind überfüllt, jeden Tag finden in der Stadt Beisetzungen statt.  Täglich gibt es mehrere Tote. Berichten zufolge gelten Tausende von Menschen als vermisst. Allein in Brega sind es 800 Menschen – ihre Verwandten hoffen, dass sie nicht getötet, sondern von den Regierungstruppen gefangengenommen wurden.

Die Mitarbeiter der humanitären Organisationen des Westens, die nun in Libyen im Einsatz sind, würden natürlich allzu gerne mehr Informationen über Verbrechen des Gaddafi-Regimes sammeln, allerdings werden sie auch mit Gräueltaten der Aufständischen konfrontiert. Sie berichteten über Fälle von Selbstjustiz: Nach der Einnahme einer kleineren Ölstadt seien vier Menschen gehängt worden. Bürgerrechtler drohen den Aufständischen damit, dass sie im Falle weiterer Racheaktionen und Selbstjustiz selbst zur Zielscheibe von Luftschlägen zum Schutz der Zivilbevölkerung werden könnten. 

Es ist jedoch äußerst schwierig, bei den Anführern der Aufständischen Gehör zu finden, selbst mit Drohungen – es gibt nämliche keine. Die Aufständischen haben keine einzige einigermaßen populäre Führungspersönlichkeit. Der einzige Name, der in aller Munde ist, ist Sarkozy.

„Frankreich, Frankreich – Danke Sarkozy!“, rufen die Bewohner von Bengasi Passanten aus Europa entgegen.

Ohne westliche Hilfe können die Aufständischen den Sieg nicht davontragen. Hunderttausende haben in Bengasi gebetet, dass Bombardements durchgeführt werden – und es kam tatsächlich dazu. Nun werden die Aufständischen vermutlich beten, dass der Westen auch Soldaten entsendet. Diese kollektiven Gebete sind ein entscheidender Beitrag der Aufständischen für den Sieg ihrer Revolution.

Gaddafi wird nicht kapitulieren, doch er kann auch nicht gewinnen.  Im selben Augenblick, in der es der regulären Armee gelang, zum Gegenangriff überzugehen, wurden auch Prozesse in Gang gesetzt, die auf einen baldigen Sturz des Regimes hinweisen. Journalisten konnten in Tripolis plötzlich beobachten, dass die Bevormundung seitens des Informationsministeriums nachgelassen hat und es in der Stadt zu Plünderungen und Versorgungsproblemen nicht nur mit Benzin, sondern auch schon mit Brot kam. Die Dschamahiriyya ist unumkehrbar.

Die häufigste Prognose lautet: Chaos und Anarchie. In Bengasi kursieren Gerüchte, die Amerikaner hätten bereits ihre Leute entsandt, die Gaddafi töten sollen – worauf die Aufständischen sehr hoffen. Doch darauf würde aller Voraussicht nach ein Blutbad folgen. Der neue Führer des Landes kann nur auf Gaddafis Umgebung zurückgreifen: Nur dort gibt es Personen, die über tatsächliche Erfahrung in der Staatsführung verfügen und nicht nur über irgendeine Autorität innerhalb der Familie oder des Clans. Allerdings gibt es viel mehr Menschen, die an die Freiheit und an sich selbst glauben. Mindestens 10.000 Bürger verfügen über eine Waffe. Sie kommen aus verschiedenen Städten und von verschiedenen Clans, doch nach Öl und Macht streben sie alle.

Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei Russkij Reportjor.

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