Beim nächtlichen Oster-Gottesdienst in der Kasaner Kathedrale. Foto: Itar-Tass
Noch immer ruht der mumifizierte Leichnam Wladimir Iljitsch Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz. Er predigte den Kommunismus und wetterte gegen Religion.
Wer die Treppen aus der Gruft des Proletarierführers nach oben steigt, hört im März 2011 orthodoxe Gesänge und „Gospodi Pomiluj“ - „Herr erbarme Dich“. Keine 200 Meter entfernt, auf der anderen Seite des Platzes, strahlt in rot-weißem Stein die Kasaner Kathedrale.
Die Pilgerströme der Touristen ergießen sich an diesem Frühlingsabend in das Nobelkaufhaus GUM und die Basilius-Kathe- drale mit ihren Zwiebeltürmen, doch wahre Spiritualität erfährt man in dieser kleinen orthodoxen Kirche.
Vor knapp 400 Jahren zu Ehren der wundertätigen Ikone der Gottesmutter von Kasan errichtet, rissen die Sowjets das Gebäude 1936 ab. Nach 1990 war es jedoch eines der ersten, das wiederaufgebaut wurde. Heute ist die Kasaner Kathedrale Sinnbild für die Standhaftigkeit der orthodoxen Kirche zu Zeiten des Kommunismus und ihren Wiederaufstieg in postkommunistischer Zeit.
Der Duft von Bienenwachskerzen, Gold und Weihrauch ummanteln die heilige Liturgie der orthodoxen Messe. Instrumente wie Klavier und Orgel sind in dieser vorösterlichen Musik nicht zu hören. Die eigentliche Wortverkündung tritt zurück und wird ersetzt durch den A-capella-Gesang von Priestern und elfstimmigem Chor.
Gestische Zwiegespräche
Die Verehrung der Ikonen erscheint für den westlichen Besucher zunächst befremdlich. Eine Frau mit Kopftuch wendet sich mit einer geflüsterten Bitte an ein Heiligenbild, bekreuzigt sich mehrfach, wirft sich nieder und entzündet eine Kerze. Jede Geste hat seine Bedeutung, dient zur kontemplativen Zwiesprache mit dem Heiligen.
Im Halbdunkel der kleinen Kirche, in der es scheint, als spende nur der Schein der Kerzen Licht, finden sich Gläubige aller Generationen und Gesellschaftsschichten ein. Geschäftsmänner stehen neben alten Frauen, Kinder neben Müttern. In den Wochen vor Ostern macht die Kasaner Kathedrale mit ihrer Spiritualität und dem Strom von Gläubigen ihrem direkten Nachbarn, dem Konsumtempel GUM, Konkurrenz. Als Zeichen der Hochachtung bleibt man in einem russisch- orthodoxen Gottesdienst stehen. Bänke und Stühle gibt es nicht. Viele Gläubige verkürzen ihren Besuch, denn die drei Stunden hält nicht jeder durch. So herrscht ein reges Kommen und Gehen, Menschen, die sich durch die Kirche schieben, gefolgt von Priestern, die österliche Lebensmittelweihen zelebrieren.
Kirchenslawischer Gottesdienst
Während die katholische Kirche im 20. Jahrhundert zu den jeweiligen Landessprachen übergegangen ist, werden in Russland die Gottesdienste noch heute in „Kirchenslawisch“ abgehalten, das der normale Gläubige nicht versteht. Der ununterbrochen andauernde Chorgesang, der Geruch von Weihrauch und die undeutliche Sprache lassen eine unvergleichliche religiöse Atmosphäre entstehen.
Die Brauchtümer der orthodoxen Kirche beeindrucken auch die- jenigen, welche dem Gebräuchlichen den Rücken zugewandt haben und sich in einem orthodoxen Gottesdienst wiederfinden.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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