Ein Fest inmitten der Katastrophe

Alexander Mindadse. Foto: Photoxpress

Alexander Mindadse. Foto: Photoxpress

Alexander Mindadse, Regisseur des Streifens „An einem Samstag“, der auf der Berlinale 2011 große Beachtung gefunden hatte, gab Anton Kostylew von der Zeitschrift Park Kultury ein Interview.

Können Sie sich daran erinnern, wo Sie an jenem Samstag, dem 26. April 1986, als die Tragödie von Tschernobyl ihren Anfang nahm,  waren?


 Gemeinsam mit dem Regisseur Abdraschitow und dem Kameramann Rerberg drehte ich in Minsk die letzten Einstellungen für den Film „Plumbum“ ab.

Gab es da schon erste Gerüchte?


 Nein, am 26. hat man natürlich noch nichts gehört, aber am 27./28., ja, da wurde etwas gemunkelt, und erste Gerüchte sind aufgetaucht. Mehr nicht… Wir haben zunächst darüber gelacht. Über die Tragweite haben wir uns keine Gedanken gemacht, sondern wir nahmen es als guten Grund, eine neue Flasche Rotwein aufzumachen.

Das ist schon erstaunlich. Auf der einen Seite hatten die Menschen, Angst vor einem Atomkrieg. Aber als die Atomkatastrophe tatsächlich eintrat, wollte das niemand glauben, nicht akzeptieren. Ja, wir Menschen scheinen die Realität nicht einmal in uns hineinzulassen…


Der Organismus, die Psyche lässt so etwas nicht in sich hinein. Sie kapselt sich ein. Das ist eben unser Leben – was auch geschehen mag, zuerst fragen wir uns: „Ein Alptraum! Wie können wir das je überleben?“ Doch dann vergehen fünf Minuten, zehn Minuten, fünf Stunden, fünf Tage, es geht langsam von dir weg, immer weiter weg – und wird einfach Vergangenheit. Es hört auf, einen beständig zu beunruhigen, der Organismus passt sich der Lage an.

Wir waren zudem bis dahin zutiefst überzeugt – hatten geradezu einen mystischen Glauben daran, dass Reaktoren so sicher gebaut sind, dass sie nicht explodieren können. Selbst als die Kraftwerker die Verbrennungen ihrer Kollegen sahen, ihre dunklen Gesichter, diese schreckliche Bräunung, den ausgeworfenen Graphit, sagte die Kraftwerksleitung immer noch: „Nein, der Reaktor ist nicht explodiert, ein Reaktor kann nicht explodieren!" Schock und Erstarrung erfasste alle, auch  die Atomexperten und selbst die Sicherheitsinspektoren, die immer nur an die Sicherheit dachten.

Man schwankt zwischen Gewohnheit einerseits und Neugier andererseits, wenn so etwas passiert. All die Leute in der Stadt, die am Abend den brennenden Reaktorblock sahen, wussten eigentlich, wie gefährlich das ist. Doch sie standen auf der Brücke und bestaunten das Feuer. Das sah phantastisch schön aus, und die Menschen standen einfach da und wussten nicht, was ihnen in diesem Moment geschieht. Denn an der tödlichen Augenweide sind später viele gestorben, weil sie in den Korridor geraten waren und eine riesige Strahlendosis abbekommen hatten.

Dastehen und auf eine tödliche Gefahrenquelle starren. – Ist das eine Eigenart des sowjetischen, des russischen oder eines jedes Menschen?


Von einem katastrophalen Ereignis gebannt zu sein und zuzuschauen – ich denke, das ist eine allgemeine menschliche Eigenart. Dennoch sind viele sowjetische Charakterzüge sowohl in Tschernobyl während der Explosion als auch danach bei der Evakuierung von Pripjat zum Vorschein gekommen. Aber einfach auf das Schauspiel einer Katastrophe zu schauen, das ist ein allgemein menschlicher Zug, offenbar etwas Urtümliches in unserem Wesen.

Szene aus "An einem Samstag" Szene aus "An einem Samstag"


Man hat das Gefühl, dass man sich im Westen besser an Tschernobyl erinnert. Dort ist dieses Wort ein Synonym für die totale Katastrophe. Hier hingegen hat man Tschernobyl weitgehend vergessen.


Ja, leider, genau so ist das. Im Westen macht man schon immer sehr große Sorgen. Es gibt große Proteste, wenn Atomtransporte stattfinden. Menschen ketten sich an die Schienen, es gibt dort eine sehr aktive Friedensbewegung von Atomkraftgegnern, Grünen und vielen anderen. Man macht sich dort viele Sorgen um sein Leben… und um seine Gesundheit. Die Westler sind regelrechte Panikmacher im Vergleich zu uns. Wir haben uns seit Jahrhunderten daran gewöhnt, unser Schicksal zu ertragen und ständig von Katastrophen umgeben zu sein. Nicht, dass uns so etwas nicht kümmert. Aber wir haben uns daran gewohnt, so wie ein Chirurg an den Tod gewöhnt ist und ein Feuerwehrmann an das Feuer. So wird der Durchschnittsmensch mit den zahlreichen Umwälzungen fertig. die sich über ihn ergießen. Er saugt sie in sich auf, verdaut sie und  - lebt weiter.

Und gefällt Ihnen diese Eigenart?


Ich will das gar nicht beurteilen, ich kann nur sagen, dass es sie gibt. Sie ruft in mir Interesse und Mitgefühl hervor. Ihr wohnt ein offenkundiger Prozess der Katharsis inne. Sie ist eine Folge einer gewissen Dynamik des Menschen, der, wenn der Tod kommt, sein eigenes Schicksal bewundert und in dieser schwierigen Minute sein Leben ganz deutlich erlebt. Das ist ein Paradoxon und durchaus interessant. Darin sehe ich eine Katharsis – nicht in der Kunst, sondern im Leben.

Warum ist für Sie die Zeit dieser Geschichte genau jetzt für Ihren Film gekommen?


Ich habe mich nie dazu gezwungen, einen Film über Tschernobyl zu drehen. Ich hatte nie die fixe Idee „irgendwann musst du etwas zu Tschernobyl machen“. Ich dann habe eigentlich keinen Film über Tschernobyl gedreht - nicht über die Katastrophe, sondern einen Film über Pripjat, über die sowjetische und russische Gesellschaft, über unser Leben, unter anderem auch das heutige; eine Metapher, die auf der Realität basiert. Irgendwie war die Zeit reif dafür.

Wenn wir über die Gegenwart sprechen: Dieser Film ist ungleich „zuschauerfreundlicher“ als Ihr Film „Otryv“. Hatten Sie sich das so vorgenommen?


Nein, natürlich nicht. Das liegt im Wesen des Sujets. Ein „kleiner Mann“ will fliehen, aber es gelingt ihm nicht recht, er trifft mit anderen zusammen, die ihn ausbremsen und ablenken. Es ist eine sehr einfache und erkennbare Handlung, und dieser Handlung mussten einfache, erkennbare Zeichen der Zeit innewohnen - eine Hochzeit, menschliche Gier, ein Besäufnis, ein Schuhabsatz bricht ab. Einfache Umstände, und deshalb ist in dieser Intrige alles viel weniger verworren und ziemlich einfach.

Die sowjetische Wirklichkeit ist ideal abgebildet. War das schwierig?


Es war eine Herausforderung. Wir gingen auf einem schmalen Grat und wollten nicht, dass es bei Klecksen in der Art bleibt: „Wie können wir die Zeit markieren? Lasst uns doch ein Porträt von Gorbatschow aufhängen!“ Wir hüteten uns davor, solche rein äußerlichen Akzente zu setzen, aber es ist auch kein Film über die Detailforschung. Wir haben nur versucht, detailgetreu zu bleiben und nirgendwo zu übertreiben und das Jahr 1986 gut einzufangen.

Es ist eigenartig, aber der Film über eine der furchterregendsten Katastrophen des letzten Jahrhunderts ist für mich ein äußerst glücklicher Film über die Jugend und das Glück überhaupt.


Für mich klingt das wie ein Kompliment, weil dieser Film tatsächlich vom kurzen und lauten Glück des Menschen handelt. Wir haben diesen Film wie eine Festlichkeit aufgenommen, das wollten wir so -  von Anfang an.

Hauptdarsteller Anton Shagin

Hauptdarsteller Anton Shagin


Und haben Sie dies den Schauspielern gesagt?


Natürlich. Das war zwar nicht das erste, was ich ihnen gesagt habe, aber genau darauf war ich bedacht. Der Film sollte ein Fest werden, eine zauberhafte Blüte des Lebens inmitten des dramatischen Geschehens. Gerade wegen dieses Rahmens ist alles so phantastisch, so inbrünstig.

Und mit dieser Einstellung haben Sie nach passenden Schauspielern gesucht?


Ja, genau. Ich brauchte offene Gesichter, von denen ich das Glück ablesen konnte, ohne die Sorgen, die man von den Gesichtern der Pripjater ablesen konnte.

Sie erzählten, dass man für Sie Erinnerungen von Zeitzeugen zusammengetragen hat,.


Diese Zeugnisse waren für mich als menschliche Dokumente von höchstem Interesse, dank deren ich diesen Film drehen konnte. Das sind sehr gewöhnliche Erinnerungen von sehr gewöhnlichen Menschen. "Was habe ich am 26. April gemacht? Ich sonnte mich auf dem Dach, ich habe etwas mit meinem Nachbarn getrunken." "Die Bräune klebte richtig an uns. ", "Wir haben noch was getrunken." oder "Mein Freund konnte nicht kommen, weil seine Frau ihn nicht gehen ließ, und da bin ich halt allein aufs Dach und bin ganz braun geworden." In dieser Art etwa sind alle  diese Erinnerungen.

Welchen Eindruck hatten Sie, haben diese Ereignisse diese Menschen verändert?


Es ist sehr schwer für mich, darüber zu urteilen. Einige von diesen Menschen leben bereits nicht mehr. Viele haben ihnen nah stehende Freunde und Verwandte verloren und sich deshalb verändert. Das Ableben eines nahe stehenden Menschen verändert jeden - vielmehr noch in diesem Fall.(Kasten) Aber wenn ein Mensch durch die Katastrophe irgendwie durchkam, er nicht von der tödlichen Strahlung getroffen wurde, dann glaube ich nicht, dass dieser Mensch sich verändert hat. Das berührt nur diesen Tag.

Aber was die weitere Entwicklung der Ereignisse betrifft, so gibt es ein bemerkenswertes Buch von Swetlana Aleksijewitsch mit dem Titel „Das Gebet von Tschernobyl“. Sie zeigt Menschen, die bei der Beseitigung der Unfallfolgen eingesetzt waren. Soldaten, Offiziere und Freiwillige – ein beträchtlicher Teil einer ganzen Generation. –Für sie war dieser übermenschliche Einsatz, wie oft in solchen Fällen, die glücklichste Zeit ihres Lebens.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Online-Zeitung "gazeta.ru".

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