"Das Leben ist schön." Foto: Michael Guterman
Eine Gruppe junger russischer Dramatiker, bewaffnet mit rasiermesserscharfen Zungen und einem Hunger nach Realismus, bringt mit ihrer Bewegung "Neues Drama" frischen Wind ins russische Theater. Ihre Theatersäle sind klein, ihre Themen ungeschminkt, und sie ziehen neue Talente und ein aktives Publikum an. Teatr.doc, das Schisn udalas produziert hat, ist außerhalb Russlands für die Produktion eines Stücks bekannt, das sich um Leben und Tod des Anwalts Sergej Magnizki dreht (der letztes Jahr in Untersuchungshaft wegen verweigerter Medizinischer Hilfe starb). Die Gruppe erarbeitete außerdem ein Stück, das sich auf die Reaktionen im Internet zu den Geiselnahmen von Beslan im Jahr 2004 stützt.
Manch ausländischer Theaterbesucher könnte den Eindruck gewinnen, das Land, das der Welt Tschechow und Gogol schenkte, habe sich in den letzten Jahren auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Doch was immer an Selbstvertrauen und Kreativität verloren gegangen sein mag, ist nun durch etwas ersetzt worden, das des großen Konstantin Stanislawski würdig ist.
Jeden Abend betreten etwa 30 Theaterbesucher das winzige Kellergeschoss von Teatr.doc, das in Moskau bereits Kultstatus erlangt hat. Eine verschwörerische Atmosphäre liegt über der minimalistischen Ausstattung, und eine beinahe greifbare Chemie existiert zwischen Schauspielern und Publikum.
Teatr.doc hat sich das Motto "Weniger ist mehr" zu Eigen gemacht. Die Frage ist jetzt: Wie lang werden Russlands bekannteste Regisseure daran vorbeikommen? "Theater muss aktuell sein. Die Bühnen ersticken unter den alten Stücken, aber sie schlagen uns die Türen vor der Nase zu", wettert Marat Gazalow, Schauspieler und einer der führenden Regisseure von "Neues Drama". "Zeitgenössisch" ist ein Wort, das sich wie ein Leitmotiv durch die Arbeit dieser neuen Dramatiker zieht. Nach einer Aufführung ihres Stücks „Verletzte Gefühle“ im März dieses Jahres formulierte die ukrainische Dramatikerin Natalia Woroschbit ihre Bezeichnung von "Neues Drama": "Menschen, die über die gegenwärtige Welt aus einer gegenwärtigen Perspektive mit einer entsprechenden Sprache schreiben. Wir haben keine Angst zu provozieren. Unsere Stücke müssen emotional sein."
Festival Goldene Maske Foto:Ria Novosti
Keine Politik
Versuchen Sie gar nicht erst, in diesen Stücken politische Aussagen zu finden. Das Magnizki-Stück ist da eher die Ausnahme von der Regel. Trotz der im Kern kritischen Einstellung der Bewegung gehen die Autoren der offenen Konfrontation mit der Elite bis jetzt aus dem Weg. "Politik interessiert mich nicht", so Woroschbit unsicher. Nach einer Pause gibt sie dann zu: "Ein Teil von mir schämt sich, weil ich nicht über Politik schreibe. Obwohl wir nicht wirklich darüber diskutiert hätten, halten wir das Thema für zu schmutzig, um es überhaupt zu erwähnen."Dieser Gedanke scheint paradox, bedenkt man die Behandlung von Tabuthemen durch "Neues Drama" (zumindest in den Moskauer Theatern) wie Drogen, Prostitution und Homosexualität. Trotz ‒ oder vielleicht wegen ‒ der riskanten Themen wächst das Publikum, und eine breitere Anerkennung steht wohl bevor.
"Neues Drama" hat seine Präsenz mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit von ein bis zwei neuen Produktionen pro Woche erstellt, und das ohne finanzielle Unterstützung, doch mit der wachsenden Gewissheit, dass die Bewegung ihren Durchbruch erlebt. Die Goldene Maske, Moskaus wichtigstes Theaterauszeichnung, für Schisn udalas scheint ein Beweis dafür. "Das Festival Goldene Maske ist ein Vorzeigeprojekt für die großen Staatstheater, dennoch haben sie uns im letzten Jahr den höchsten Preis verliehen, und in diesem Jahr gab es mehrere Nominierungen", sagt "Neues Drama"-Autor Michail Ugarow. "Diese Anerkennung ist ein deutliches Signal dafür, dass "Neues Drama" in den Mainstream eingedrungen ist.“
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