Beppe soll mir nicht wieder vorwerfen, ich sähe alles zu negativ. Als
Erstes sei daher hier etwas korrigiert: Über den Roten Platz in Moskau
walzten heute keine Panzer. Sondern wieder nur Massen von Touristen.
Insofern eine sehr erfreuliche Nachricht: Denn obwohl heute in der
Moskauer City -zigtausende auf die Straße gingen: die Opposition, die
Gewerkschaften, die Kommunisten, die Radikalen, dazu jede Menge
Polizisten verlief alles relativ friedlich. Die Gewaltnachrichten des
Tages stammten aus einer Stadt namens Hamburg, wo Linksextreme bei den
ritualisierten Schanzenkrawallen mehrere Polizisten verletzten.
Ganz anders die Freizeitgestaltung hier: Wer nicht auf seine Datsche
fahren konnte, weil er keine hat, nicht einmal Freunde oder Verwandte
mit einer Datsche, und wer nicht hören will, wie die Kommunisten auf der
Straße die Verstaatlichung von Betrieben fordern, geht zum Gucken ins
GUM, die Luxus-Shopping-Mall, gegen die das KadeWe ein Ramschladen ist.
Kunde, frage nicht, was es hier an Marken gibt. Frage lieber, was es
nicht gibt!
Nur die Servietten im GUM sind teuflisch. Zur Spinatquiche, die Nadja in
einem der Galeriecafes serviert kommt ein kleiner Fetzen, so fest um
Messer und Gabel gewickelt, dass man ihn zerreißen muss. Woraufhin die
Gabel unter den Tisch fliegt, das Messer aber einen Stock tiefer in die
Halle, wo die Schaufenstergucker erstarren. Unter ihnen zum Glück keiner
der Polizisten, die überall auf das kleinste Anzeichen von Gewalt
lauern. Nadja lacht: Ausländern passiere das öfter.
Warum sie den Fetzen so fest ums Besteck wickeln müsse? Nadja tut, als
sei sie fasziniert von dem jungen Paar, das sich – immer diese Angst vor
langweiligen Fotos! – in anrüchigen Posen auf der Galeriebrüstung
fotografieren lässt.
Moskauer, die aus Angst vor fliegenden Messern lieber nicht ins GUM
gehen, fahren auf den Spatzenhügel hinter der Universität. Caterina aus
Palermo, die in Moskau studiert und die natürlich meinen vielgereisten
Reisebegleiter Beppe kennt, ist so freundlich, uns herzuführen. Wo
Chruschtschow junge Pioniere im Grünen drillen ließ blickt man heute
über den Fluss Moskva auf die Stadt, isst warme Maiskolben und findet
mit ein paar Bier schnell neue Freunde. Hier kann man auch heute schon
die modischen Trends von morgen entdecken, etwa Jogginganzüge mit
Engelsflügeln. Am Spatzenhügel traut sich auch eine in der Stadt
bedrohte Minderheit aus der Deckung: Die Spezies der Radfahrer. Kein
Vergleich wiederum zu Hamburg – sobald man einen der Pedalisten zu
scharf ansieht entschuldigt er sich fast.
Die Idylle könnte perfekt sein, wären da nicht die auf volle Lautstärke
gedrehten Musikanlagen der Ausflugsbarkassen. Um den Lärm zu
kompensieren entsenden die Schiffseigner Männer und Frauen mit
niedlichen Schiffermützen, die verzweifelt versuchen, Passanten zu einer
einstündigen Fahrt zum Roten Platz zu überreden, nach der man entweder
taub, irr oder vor Verzweiflung betrunken sein wird, oder alles drei.
Wir nehmen die Metro.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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