BRICS und die Neuordnung der Welt: Ist eine Evolution möglich?

Fjodor Lukjanow

Fjodor Lukjanow

Die jährlichen Gipfeltreffen der BRICS-Staaten werden jedes Mal ähnlich kommentiert. Zum einen mit Herablassung: Eine künstliche Organisation, die keine Zukunft hat, da es nichts gibt, was ihre Mitglieder verbindet. Zum anderen mit Besorgnis: Die BRICS-Länder sehen sich als Gegengewicht zu den USA, man sollte sie im Auge behalten, damit die amerikanischen Interessen keinen Schaden nehmen. Wenn BRICS nur eine Fiktion ist, welchen Grund zu Befürchtungen gibt es dann?

BRICKS. Zeichnung: Niyaz KarimBRICS. Zeichnung: Niyaz Karim

Nach dem Abflauen der globalen Finanzkrise irritiert die westlichen Kommentatoren besonders Russlands Engagement im BRICS-Verbund. Was hat dieser Rohstoffstaat mit unklaren Modernisierungsperspektiven unter den „Führungsmächten der Zukunft“ zu suchen? Und tatsächlich tanzt Russland in der allgemeinen Rangordnung aus der Reihe. Nicht nur im Hinblick auf sein Entwicklungstempo, das deutlich hinter dem Chinas oder Indiens zurückbleibt. Sondern vor allem, weil Russlands Probleme vollkommen anderer Natur sind als die Schwierigkeiten, die alle übrigen BRICS-Mitglieder noch immer zu überwinden haben. Denn trotz ihrer beeindruckenden Wirtschaftsdynamik bleiben sie Entwicklungs- respektive Schwellenländer. Hingegen ist Russland ein entwickeltes Land, das nach beispiellosem Fall und tiefer Degradierung gegenwärtig alles daran setzt, seine Position zurückzugewinnen. Dabei ergeben sich Schnittmengen mit anderen BRICS-Staaten, aber auch gegensätzliche Aufgabenstellungen.

Die Argumentationslinien der westlichen Kommentatoren wären durchaus plausibel, ginge es in Sachen BRICS hauptsächlich um Ökonomie. Doch offenkundig besitzt diese Struktur für ihre Mitglieder vor allem einen politischen Gehalt. Darin reflektiert sich das objektive Bedürfnis nach einer stärker diversifizierten, weniger westlich orientierten Weltordnung, da die herkömmliche bipolare Zentrierung allmählich in eine Sackgasse gerät. Oder anders ausgedrückt: Im Rahmen von Institutionen aus den Zeiten des Kalten Krieges lassen sich keine Antworten finden auf die immer zahlreicher werdenden Fragen der Gegenwart. Neue Gremien und Prozeduren sind jedoch nicht entstanden. Die Unzufriedenheit mit diesem Status quo veranlasst die BRICS-Staaten, nach Lösungen zu suchen, die nicht so sehr auf die Ersetzung der herkömmlichen Instanzen als vielmehr auf ihre Umgehung abzielen.

Eine multipolare Weltordnung erfordert andere Strukturformate als diejenigen, die der bipolar organisierten Welt mit ihren zwei grundlegenden politisch-ökonomischen Lagern dienten. Aber die alten Organisationsprofile haben sich seither kaum substantiell verändert, und nicht zufällig hinterfragen die BRICS-Staaten in den Abschlusserklärungen der Gipfeltreffen die Legitimität des existierenden Systems. Mit einer Reform etwa des UNO-Sicherheitsrats, der das Kräfteverhältnis des Jahres 1945 abbildet, ist jedoch nicht zu rechnen. Die jetzigen ständigen Mitglieder machen keine Anstalten, ihre Privilegien mit irgendjemandem zu teilen. Was auch für die beiden BRICS-Staaten Russland und China gilt, die ebenfalls einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehaben. Zudem fehlen exakte, transparente Kriterien, die einer Reformierung des Gremiums zugrunde gelegt werden könnten. Als der Sicherheitsrat ins Leben gerufen wurde, gab es derartige Kriterien sehr wohl, begründet durch den Ausgang des Zweiten Weltkriegs.

In allen fünf BRICS-Staaten wird die Meinung laut, dass der Westen faktisch den Fortschrittsdiskurs an sich gerissen hat. Eine solche Monopolisierung geht völlig an der volkswirtschaftlichen Sachlage vorbei, ja entspricht nicht einmal dem heutigen politischen Kräfteverhältnis. Zudem verhindert sie innovative Lösungen, die nur im Ergebnis einer erweiterten Diskussion entstehen können.

Die fünf BRICS-Mitglieder spüren, dass allen Versuchen, das eigene politische Gewicht und internationale Durchsetzungspotential ausschließlich im Rahmen der bestehenden Strukturen zu stärken, enge Grenzen gesetzt sind. Deshalb suchen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika nach Wegen, um ihre Verhandlungspositionen bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung zu konsolidieren. Die Tatsache, dass die BRICS-Staaten vier bedeutende Kontinente – den südamerikanischen, den asiatischen, den europäischen und den afrikanischen – repräsentieren, verleiht ihren Bestrebungen zusätzliche Tragweite.

Russland, das seit 1991 noch immer nicht zu einer stabilen außenpolitischen Identität gefunden hat, kam die BRIC-Initiative mehr als gelegen. Es hätte sich wohl kaum ein günstigeres Strukturformat finden lassen, um damit gleich drei maßgebliche Zielsetzungen zu verfolgen: Erstens die Korrektur des Grundvektors der russischen Außenpolitik durch Stärkung des nicht auf den Westen bezogenen Engagements. Zweitens die Akzentuierung des Gedankens, dass Russland in globalen Größenordnungen denkt, auch wenn sein Horizont nach dem Zerfall der UdSSR eher zu einem regionalen Blickfeld schrumpfte. Sowie drittens die Demonstration der Gemeinschaftlichkeit mit Staaten, die in punkto Dynamik und Qualität des Wirtschaftswachstums weltweit führend sind. Und das alles auf einer nicht-konfrontativen Basis, da sämtliche BRICS-Mitglieder entschieden bestreiten, dass sich ihr Verbund gegen irgendjemanden richtet.

Tatsächlich liegen dezidierte Konfrontationsabsichten den BRICS-Staaten fern, umso mehr, als sie zu den USA enge Beziehungen unterhalten. Dabei kann die wechselseitige Abhängigkeit ökonomischer Natur sein wie bei China, Indien und Brasilien oder politischen Charakter tragen wie im Falle Russlands. Doch was immer in den BRICS-Hauptstädten gesagt oder gedacht werden mag, wir haben es mit einem geschlossenen System der internationalen Politik- und Wirtschaftsarchitektur zu tun, deshalb muss man denjenigen Analytikern Recht geben, die konstatieren: Der Einfluss der BRICS-Gruppe kann nur wachsen auf Kosten einer – wenn auch relativen – Reduzierung der Autorität des Westens.

Nun muss es durchaus nicht schlecht sein, wenn sich eine Evolution vollzieht. Wie der objektive Status quo zeigt, braucht die Welt eine neue Balance. Und damit sich diese Balance einstellt, darf man dem Aufstieg und Erstarken neuer Zentren nicht entgegenwirken, sondern muss sie fördern und in die Gestaltung des neuen Wirtschafts- und Politiksystems einbinden. Wenn es den einen jedoch nur darum geht, ihre Privilegien zu sichern, und die anderen latent daran arbeiten, ihnen die Pfründe streitig zu machen, führt das mit Sicherheit zu einer neuerlichen globalen Erschütterung. Und erst danach wird sich eine andere Weltordnung herausbilden. Anhand klarerer Kriterien, zumindest im Hinblick darauf, wer gesiegt und wer verloren hat. Allerdings ist diese Klärung sehr teuer erkauft. 

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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