Die Reise nach Mursalien

Der 9. Mai: Michail Zwilling am Poklonnaja-Berg in Moskau. Foto: aus dem persönlichen Archiv

Der 9. Mai: Michail Zwilling am Poklonnaja-Berg in Moskau. Foto: aus dem persönlichen Archiv

Am 9. Mai wird in Russland der «Tag des Sieges» gefeiert: Es wird der Opfer eines der schrecklichsten und blutigsten Kriege der Menschheit gedacht. Michail Zwilling, Deutschprofessor an der linguistischen Universität Moskau, hatte ihn hautnah miterlebt.

«Und als ich die deutsche Sprache vernahm, da ward mir ganz seltsam zumute; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz Recht angenehm verblute. Kennen sie das?», zitiert Michail Jakowlewitsch Zwilling gleich nach dem freundlichen “Ich grüße Sie“.

Der 85-Jährige wirkt trotz seines respektablen Alters fast jugendlich: Sein Gesicht zeigt kaum Falten, seine Bewegungen sind plastisch und präzise, die braune Hose und das beige Hemd sind akribisch gebügelt und streng aufeinander abgestimmt. Seine Wohnung, im fünfstockigen Plattenbau im Akademikerviertel im Südwesten Moskaus gelegen, gleicht einer historischen Bibliothek: Hunderte deutscher und russischer Werke stehen hier beisammen: Dostojewski und Kleist, Goethe und Puschkin. Die Wände zieren alte Schwarzweißfotos und Urkunden aus längst vergangener Zeit.

Michail Jakowlewitsch nimmt gemählich Platz in seinem Sessel. Sein klares und artikuliertes Deutsch klingt wie aus einer anderen Epoche: «Das ist von Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen», sagt er ein wenig stolz – fast, als sei der letzte Romantiker sein persönlicher Freund gewesen.

In Russland ist der Linguist, Professor und Leiter des Lehrstuhls für Übersetzungstheorie an der staatlichen Linguistik-Universität Moskau schon eine Legende. Duzende Werke und Wörterbücher zur deutschen Sprache hat der Akademiker verfasst, auf zahllosen Staatsempfängen gedolmetscht: Von Nikita Chruschtschow bis Wladimir Putin durfte er die Worte aller Parteisekretäre und Präsidenten überliefern, bis auf Dmitri Medwedjew . Noch heute übersetzt er simultan und bringt es seinen Studenten bei. Deutsch ist seine Leidenschaft, und fast schon seine Muttersprache.

Michail Zwilling kam 1925 in der Schwarzmeerstadt Odessa zur Welt, in einer für die Sowjetunion schweren und turbulenten Zeit: Der Bürgerkrieg war gerade zu Ende, die Kollektivisierung und Enteignung nahmen ihren Lauf. Michail hatte Glück, wie so oft in seinem späteren Leben: Sein Vater war Repräsentant der sowjetischen Außenhandelsbank, die Mutter hatte die deutschsprachige Peterschule in Leningrad absolviert. Die Familie lebt überwiegend im Ausland, zuerst in der Türkei, später in Polen – Länder, in die viele Russen vor dem Bolschwismus geflohen waren, und die auf offizielle Vertreter des verhassten Arbeiter- und Bauernstaates sehr schlecht zu sprechen waren. «Deswegen haben wir fast immer Deutsch gesprochen, sowohl zu Hause als auch auf der Straße», berichtet Zwilling.

Als der Vater an Magenkrebs stirbt, kehrt die Familie zurück. Im Februar 1935 kommt Michailauf die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule, wo viele Russlanddeutsche und Kinder von Immigranten aus der Weimarer Republik lernten: «Es kamen immer mehr deutsche Führungskräfte nach Moskau, wegen der 5-Jahresplänen der Sowjetwirtschaft », erinnert sich Michail Jakowlewitsch. Hier lernt Michail seinen besten Freund Roland kennen, einen Russlanddeutschen. Zusammen gingen sie durch dick und dünn, lasen, bastelten, fantasierten. «Wir zwei teilten alles, und hatten sogar einen eigenen Staat – Mursalien». Über die Macht- und Rollenverteilung konnten sich die damals 10-Jährigen nicht einigen. Also wurde es ein Tandem - , «so, wie bei Medwedjew und Putin heute», lacht Michail Jakowlewitsch. Nach der Machtergreifung Hitlers kommen auf seine Schule noch mehr deutsche Kinder, überwiegend von Antifaschisten und kommunistischen Aktivisten, die aus Deutschland geflohen waren. Unter den Schülern ist auch Prominenz: Der spätere Filmregisseur Konrad Wolf war eine Klasse über Zwilling.

Ihre Freude, dem blutigen Regime des Nazi-Diktators entgangen zu sein, hält nicht lange vor, denn 1936 beginnt der Sowjetdiktator Stalin den Großen Terror. Der NKWD fahndet nach Staatsfeinden, eine Denunzierungswelle rollt durchs Land. Führungskräften und Funktionären, die gestern noch in der staatlichen Gunst standen, wird ein kurzer Prozess gemacht. Die Säuberungen betreffen das ganze öffentliche Leben, selbst die Schulen bleiben nicht verschont: So wird die Leitung der Karl-Liebknecht-Schule beschuldigt, eine Untergrund-Abteilung der Hitlerjugend im Hause geduldet zu haben. Die Schule wird aufgelöst, einige Lehrer und sogar Schüler kommen in den Gulag. Dabei sei sie gerade durch die Migranten eher antifaschistisch-kommunisitsch-liberal geprägt gewesen: «Diese Anschuldigung war völlig aus den Fingern gesaugt», sagt Zwilling.

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Der Krieg

Michail Jakowlewitsch lehnt sich im Sessel zurück, nimmt seine dickglasige Brille ab und putzt sie bedächtig. Er schöpft Kraft für den Rest seiner Geschichte – den Krieg. Als am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen wird und der «Große Vaterländische Krieg» ausbricht, ist er gerade 16. Er und andere Schüler werden 300 Kilometer westwärts gebracht, ans Ufer des Flusses Dnjepr, wo sie Befestigungsanlagen gegen die schnell vorrückenden deutschen Panzer bauen sollen.

Hier, mit der Schaufel in den Händen, hört er am 3. Juli Stalins Rede im Radio, in der sich der Diktator mit «Brüder und Schwestern» an die Nation wendet. Zwei Wochen später hört er in der Ferne plötzlich Kanonendonner: Die Front war innerhalb weniger Wochen hunderte Kilometer ins Landesinnere gerückt. Immer wieder fliegen deutsche Aufklärungsflugzeuge über die Befestigungsanlagen hinweg. Aus dem Westen strömen Flüchtlinge, die Schlimmes erzählen: Angeblich seien ganze Armeedivisionen umzingelt und eingekesselt worden. «Uns wäre es beinahe auch so ergangen, aber im letzten Augenblick hat man uns evakuiert», erzählt Zwilling.

Die Jungarbeiter werden in einem Dorf bei Wjasma einquartiert. Michail und ein Kollege schieben Küchendienst. Mit Suppentöpfen im Anschlag laufen sie durch das Dorf, als ein Junkers-Bomber über ihren Köpfen auftaucht. «Diese Bombe lärmte so schrill und ohrenzerreißend, wir dachten, dass sie uns direkt am Scheitel treffen wird. Wir stülpten uns die Töpfe über den Kopf und warfen uns zu Boden». So erlebt Zwilling seinen ersten Bombenangriff. Dutzende weitere folgten.

In Moskau

In Moskau zurück, gehören die Bombenangriffe bald zu seinem Alltag. Täglich fliegt die Luftwaffe ihre todbringenden Einsätze. Dennoch bleibt die Hauptstadt weitgehend heil, denn: Tausende Moskauer Jugendliche schieben freiwillig Wache auf den Dächern der Stadt, unter ihnen auch Michail Zwilling. Sie verstecken sich unter Kaminsimsen und lauern auf Brandbomben. «Wir nannten sie 'Feuerzeuge': Beim Aufprall enzündeten sie sich und brannten sich binnnen Sekunden durch die blechbeschlagenen Dächer. Wir haben sie mit einer Schaufel heruntergeworfen», beschreibt Zwilling.

Abgeschossener Bomber in Moskau. Foto: ITAR-TASS


Der erste Kriegssommer ging zu Ende, Michail hatte gerade die Schule abgeschlossen. Er will studieren und seiner Heimat helfen. Auf den Rat der deutschen Kommunistin Toni Kraft hin, mit der die Familie befreundet ist, bewirbt sich Michail für den Lehrgang Militärübersetzer am Militärischen Fremdspracheninstitut. Ein Tipp, der wahrscheinlich sein Leben rettete: Im Spätherbst 1941 steht die Wehrmacht vor den Toren Moskaus, die Rote Armee erleidet heftige Verluste. Die Armeeführung zieht Reservisten, Offiziersschüler und Studenten ein, mit ihnen sollen die Breschen in den eigenen Reihen geschlossen werden. Viele Moskauer Studenten fallen in jenem Herbst an der Front. Michails Fakultät wird auf den Befehl des Institutdekans vorher evakuiert –die deutschsprechenden Stundenten sind zu wichtig für den Frontfleischwolf.

Stawropol an der Wolga, das heutige Togliatti, wird die neue Heimat der Fakultät. In Michails Kurs sind viele ältere und erfahrenere Übersetzer, die das militärische Ein mal Eins pauken. Nur von den Tausenden Russlanddeutschen aus Moskau, die für diese Arbeit prädestiniert gewesen wären, ist niemand dabei: Im August 1941 lässt Stalin sie deportieren. Russlanddeutschen wird Kooperation und Sympathie mit den Nazis vorgeworfen. 440 000 kommen in Arbeitslager – «Arbeitsarmeen», wie sie die Propaganda beschönigend nennt. Darunter ist auch Michails Freund Roland.

«Wir wussten nicht, dass diese Arbeitsarmeen in Wahrheit Konzentrationslager waren. Wir dachten, es sei eine Armee, in der eben gearbeitet wurde», erinnert sich Michail Jakowlewitsch. Aus Rolands Briefen erfährt er nur wenig, die Post wird sorgsam zensiert. Ab und an schreibt Roland, wie schön es doch in ihrem Mursalien war. Bei dieser Erinnerung kommen Michail Jakowlewitsch noch heute die Tränen.

Auch Michail muss seine Herkunft lückenlos nachweisen. Er wird von der Diktaturmaschinerie verschont, weil im Pass seines verstorbenen Vaters unter Konfession «jüdisch» steht.

Nach dem sechswöchigen Kursus ist Michail ausgebildeter Militärdolmetscher. Weil Lehrkräfte fehlen, gibt er vorerst Nachhilfeunterricht. Doch er will an die Heimatfront: «Wir alle wollten für unser Land kämpfen, aber es hatte nichts mit Patriotismus zu tun, es war unser Pflichtbewussein. Wir mussten etwas tun», beschreibt er seine Gefühle damals. Michail kann besser Deutsch als die Professoren an seiner Übersetzerfakultät. Die Institutleitung lässt ihn nicht gehen: Er wird zum Dozenten befördert. Mit 17.

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«Es gab vieles, auch Schlimmes»

 

Erst im Februar 1945 darf er im Rahmen einer «militärischen Fortbildung» endlich an die Front, die gerade bei Marienburg in Westpreussen verläuft. Schwere Gefechte gibt es kaum, die Bevölkerung hat das Gebiet weitgehend verlassen. Michail übersetzt bei Verhören und vernimmt Überläufer. Folter hat er nie miterlebt, aber Brandschatzung. Michail Jakowlewitsch hält inne, faltet die Hände. «Sehr viele russische Soldaten hatten in diesem Krieg alles verloren, alles, wofür sie gelebt haben. Es gab vieles, auch Schlimmes. Propagandistisch schlachtete Goebbels solche Übergriffe natürlich voll aus». Nach zwei Monaten ging Michail, bereits 19-jähriger Leutnant, nach Moskau zurück, wo  das Fremdspracheninstitut wieder hingezogen war.

Nach Michail Jakowlewitschs Erinnerung stand die Sowjetpropaganda der Nazipropaganda nur wenig nach. An eine Episode aus der Kriegszeit erinnert er sich so, als sei es gestern gewesen: Am 17. Juli 1944 veranstaltet der NKWD den «Marsch der deutschen Kriegsgefangengen», 57 000 deutsche Gefagenen ziehen auf ihren Weg in die Lager durch die Hauptstraßen Moskaus. Den Marsch, der eigentlich das nahe Kriegsende symbolisieren und Siegerstimmung verbreiten sollte, nehmen die Moskauer ganz anders wahr: «Tausende Menschen standen in den Straßen, dabei war  es still, nur die Stiefel schlugen auf den Pflastersteinen auf. Die Menge stand niedergeschlagen da, die Gefangengen zogen bedrückt vorbei. Von Siegesstimmung war keine Spur. Vielmehr dachten beide Seiten das Gleiche: So weit hatte dieser Krieg uns Menschen getrieben».

«Marsch der deutschen Kriegsgefangengen» 17. Juli 1944. Foto: RIA Novosti


Der Tag des Sieges

Die 2. große Erinnerung ist der 9. Mai 1945, als die deutsche Wehrmacht bedingungslos in Berlin kapituilierte. An jenem Frühlingstag fährt Michail mit seiner Freundin und späteren Lebensgefährtin, Militärübersetzerin im Generalstab, mit der Metro in die Moskauer Innenstadt. Plötzlich platzt eine Horde Jugendliche in den U-Bahnwagen: «Der Krieg ist vorbei!», rufen sie. «Was da ausbrach, das lässt sich kaum beschreiben», erinnert sich Michail Jakowlewitsch. «Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme und weinten, küssten sich sogar. Diese Euphorie kann man nicht in Worte fassen».

Sie hatten überlebt. Der lang erwartete Tag des Sieges war gekommen, und mit ihm die Zeit der großen Hoffnungen. «Alle freuten sich des Lebens, der schreckliche Krieg war vorbei und sie dachten, dass ihr Dasein jetzt einfacher werden würde», erzählt Zwilling. Erwartungen, die sich nicht bewahrheiteten: Die Wirtschaft lag brach, Tausende Ortschaften waren zerstört worden, 28 Millionen Sowjetbürger getötet. Es folgten Jahre akuter Not, Knappheit und harter Diktatur, die erst 1953 mit dem Tod Stalins enden sollten. «Eigentlich war das Leben fast genauso schlimm, wie in den Kriegsjahren», sagt Michail Jakowlewitsch. Dann steht er gemächlich auf und geht ins Schlafzimmer, wo er seine Paradeuniform aus dem Schrank holt, deren Brust unzählige Orden und Medaillen zieren.

Die Militärparade am 9. Mai. Foto: ITAR-TASS

Jedes Jahr am 9.Mai zieht sie der 85-Jährige Oberstleutnant an, dann geht er zum Poklonnaja-Berg, dem Kriegsmahnmal am Stadtrand von Moskau. Dort, wo der Tag des Sieges mit Konzerten und großem Rummel gefeiert wird. Zehntausende Menschen strömen hierher – Erwachsene, Jugendliche, Kinder, Veteranen. Michail Jakowlewitsch trifft sich hier mit seinen wenigen noch lebenden Kameraden.

Sein bester Freund Roland ist nicht dabei. 1956 kam er aus dem Lager, durfte aber nicht mehr nach Moskau zurückkehren, und ließ sich im wieder aufgebauten Stalingrad – heute Wolgograd – nieder. 1999 verstarb er in seiner Wahlheimat Deutschland. «Bis nach Mursalien hat er es doch nicht geschafft», lächelt Michail Jakowlewitsch traurig.

Vom Poklonnaja-Berg kommt Zwilling jedes Jahr mit einem großen Nelkenstrauß zurück. Die kleinen roten Blumen sind ein Symbol des 9. Mai, sie säumen Soldatengräber und Mahnmäler, Schulkinder schenken sie den  Veteranen, die sich gerührt zeigen. Ein großes Fest, der Tag des Sieges, an dem man eigentlich etwas ganz anderes zelebriert. «Am 9. Mai feiert man weder den Sieg über die Deutschen noch triumphiert man über Deutschland», sagt Zwilling. Es sei wie der Sieg des Guten gegen das Böse gewesen, deswegen ist der 9. Mai heute ein Tag der Einheit, der Lebensfreude und der Hoffnung. «Vielleicht können ihn die Deutschen und die Russen eines Tages gemeinsam feiern», wünscht der 85-Jährige und erhebt sich aus seinem Sessel. Er hat morgen noch viel vor - eine Deutsch-Vorlesung und zwei Russisch-Seminare.

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