Medwedjew oder Putin? Die Gesellschaft ist der Ikonen müde. Foto: AFP/Eastnews
Im Jahr vor der Wahl sind in Russland apokalyptische Gerüchte in Mode. Expertenberichte, die in den letzten Wochen stapelweise veröffentlicht wurden, zeichnen das düstere Bild einer politischen Krise, an der die Russische Föderation jeden Augenblick zu zerbrechen drohe.
Im Februar preschte das 2008 von Medwedjew gegründete Institut für Moderne Entwicklung (INSOR) mit einer barschen Schelte des bestehenden Systems vor, bald folgte ein weiterer Bericht. Die schärfste Kritik kam jedoch vom Zentrum für Strategische Studien (ZSR). Das Delikate daran: ZSR gilt als Think Tank des Kreml, dort entstand das Programm für Wladimir Putins erste Amtszeit als Präsident.
Die Kernaussage der regierungskritischen Studie: Wenn die Machtvertikale aus Präsident und Premier nicht bald abgeschafft wird und sich das Tandem Medwedjew/Putin nicht selbst voneinander löst, könnte das System kollabieren. Das könnte ägyptische Verhältnisse bedeuten.
Verkrustete Machtstrukturen
Als Auftakt der Studie bekommt der Leser ein Kaleidoskop unzufriedener Stimmen aus dem Volk geboten, die sich zu Medwedjews und Putins Wahlchancen äußern. „Medwedjew kann man doch abhaken ... Wer soll für den stimmen?“ (03/2011, Moskau, weiblich, 43, ohne Hochschulbildung).
Aber auch Wladimir Putin wird nicht geschont. Dem Premier wird zwar zugestanden, dass er einen guten Teil seiner Wählerschaft halten kann, die altert allerdings rapide und ist pessimistisch gestimmt: „Mit Putins Machtantritt hat sich die Lage stabilisiert, alles zum Besseren gewendet. Bei Gorbatschow und Jelzin gab es Streiks, die Bevölkerung war in Aufruhr. Nun ist es anders. Die oben bereichern sich, die unten schweigen, ein stabiler Zustand. Doch das macht einem am meisten Angst. Weil die Situation jederzeit kippen kann.“ (März 2011, Jekaterinburg, männlich, 43, Akademiker) Kurzum, der Bericht läuft darauf hinaus, dass die Nation das Machtduo leid ist.
Ändert sich nichts
UMFRAGE
„Wen würden Sie gerne als Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 2012 sehen?“, lautete im März eine Frage des Levada-Zentrums. Die Zahl der Russen, die für Dmitri Medwedjew votierten, ist innerhalb von neun Monaten von 14 Prozent auf 18 Prozent gestiegen und umgekehrt für Wladimir Putin von 30 Prozent auf 27 Prozent gesunken. Für eine Kandidatur beider sprachen sich 16 Prozent aus. Es handelt sich vor allem um Jugendliche und Personen mit mittlerer Bildung und hohem Lebensstandard. Einen neuen Kandidaten wünschen sich ältere Bürger mit niederem Lebensstandard sowie Großstädter.
an den bestehenden Verhältnissen, so der Bericht, werden die etablierten Spitzenpolitiker bei den anstehenden Wahlen zwar zweifellos noch einmal siegen. Jedoch würden sie ihre Legitimation in den Augen der handlungsaktivsten Bürger verlieren. Das berge die Gefahr sozialer Unruhen und einer Demontage des bestehenden politischen Systems. Wie die Autoren hervorheben, wächst unter den Wählern das Bedürfnis nach einer dritten, übergreifenden politischen Figur als einer echten Alternative.
Die ZSR-Experten ziehen offenbar nun Schlüsse aus einer eigenen, falschen Prognose vor zehn Jahren: In ihrem Programm für Putins erste Präsidentschaft hatten sie die Verdoppelung des Bruttoinlandsproduktes bis 2010 festgeschrieben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, und schuld daran sei nicht nur die Weltwirtschaftskrise, sondern auch Mängel an der Grundkonstruktion der „Machtvertikale“. Das schon unter Putin eingeführte System der Machtvertikale konzentrierte Macht und Ressourcen im Kreml und sollte es der Zentralverwaltung wieder ermöglichen, ihren Willen von oben nach unten konsequent durchzusetzen.
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Stillgelegter Karrierelift
Zur Behebung der „Konstruktionsfehler“ wird in dem Bericht vorgeschlagen, die alleinige Regierung der Kreml-Partei Einiges Russland zu beenden und nach den Wahlen eine Koalitionsregierung zu bilden.
Die Prognosen der Think Tanks bergen einigen Zündstoff, aber wie realitätsnah sind sie? In Russland steht das Vertrauen gegenüber der Regierung in einem proportionalen Verhältnis zur Geldmenge, die diese für Renten, Sozialhilfe und andere „Loyalitätsboni“ ausgibt.
Die nahe Zukunft sieht da rosig aus: Schätzungen zufolge spült allein der Export von Erdöl 2011 350 Milliarden Dollar in die Staatskasse. Die Machtvertikale ist also vorerst gesichert.
Gelöst ist damit aber nicht das Problem ihrer festgefahrenen Konstruktion: Die Machtverhältnisse an Russlands Spitze lassen sich nicht ändern, ohne das Gesamtkonstrukt zu zerstören. Die Befürworter des bestehenden Systems fürchten deshalb nichts so sehr wie politischen Nachwuchs. Eine präsidiale Kommission „castete“ zwar 2500 Nachwuchskräfte für Spitzenpositionen. Aus der „Kaderreserve des Präsidenten“ kamen jedoch seit 2009 nur 75 Jungpolitiker in höhere politische Ämter.
Die Chancen auf eine politische Karriere stehen damit selbst innerhalb der „Kaderreserve“ schlecht. Für den Nachwuchs außerhalb der politischen Arena sind sie gleich null.
Ähnlich ist die Situation der Wirtschaftselite. Zwar hat der Kreml die Oligarchen an sich gebunden. Unabhängige Kleinunternehmen und mittelständische Betriebe - unerlässlich für eine stabile Gesellschaft - sind aber nach wie vor kaum vorhanden. Die Wirtschaft bildet ein abgeschlossenes System, das Außenstehende so gut wie nicht integriert.
Die ZSR-Experten beklagen außerdem einen Mangel an Parteien, die der Kreml-Partei Einiges Russland Paroli bieten könnten. Sie fordern ein Mehrparteiensystem, doch das ist leichter gesagt als getan: Dafür müssten sich die trägen russischen Wähler, die aufgrund der eigenen Passivität für die Regierungspartei stimmen, mehr engagieren.
Aber selbst dann hätten sie kaum eine Alternative: In einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums konnte die Mehrheit der Befragten außer Putin, Medwedjew und den beiden politischen Dinosauriern Wladimir Schirinowski (Liberale) und Gennadi Sjuganow (Kommunisten) keine weiteren Politiker nennen. Über drei Viertel der Befragten hatte noch nie von der international anerkannten Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa gehört. Von der oppositionellen Solidarnost-Bewegung wussten immerhin 32 Prozent. Unter solchen Bedingungen hätte der oppositionelle Politiker Boris Nemzow bei der Wahl noch die meisten Chancen.
Der unbekannte Dritte
Einen realen Ausweg böte laut ZSR-Experten nur eine einzige Initiative, nämlich der Vorschlag, das Machttandem in ein Triumvirat zu verwandeln, und damit die Wählerbasis zu erweitern. Als Kandidat wird häufig Vizepremier Igor Schuwalow genannt. Ihm traut man die Führung der Partei Prawoje delo („Rechte Sache“) zu, 2012 könnte er neuer Regierungschef werden. Die staatliche Unterstützung, medial wie finanziell, könnte seine liberale Partei erheblich stärken.
Das Grundproblem bliebe aber bestehen: Der „potenzielle Dritte“ käme wieder aus dem bestehenden System. Und würde der neuen Regierung keine wirklich neuen Impulse geben.
Dieser Beitrag erschien zuerst im russischen Wochenmagazin Itogi
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