Krakau: Sind wir wirklich im Osten?

Im Italienischen Kulturinstitut in der Grodzka-Straße führen wir vor einer Menschenmenge, die voller Neugier für vier vagabundierende Zugfahrer ist, zwei interessante Diskussionen. Die erste über „die ideale Zugfahrt“. So erfahren wir, dass die Träume der Anwesenden von einer Reise nach Chongqing (China) bis zu einem Aufenthalt im Reisewagen mit Mark Spörrle gehen. Doch diese Aussagen könnt ihr euch im heutigen Videoblog anschauen (damit ihr nicht sagen könnt, dass ich alles erfinde).


Die zweite Diskussion befasst sich mit den Kardinalpunkten. „Warum“, fragt Professor Stephan Bielanski der Jagellonica-Universität in Krakau, „zählt ihr in Italien Polen immer noch zu den „Osteuropäischen Staaten“, wobei wir doch im Zentrum Europas sind?“ Folgerichtiger Einwand, den man auch morgen in Prag erheben könnte, eine Stadt, die von einigen immer noch als „Oststadt“ betrachtet wird, obwohl sie westlich von Wien liegt.

Meine Antwort hierzu ist ganz einfach und sie lautet: Man muss immer von Deutschland ausgehen, und zwar nicht, weil es im Zentrum liegt, sondern weil es das Zentrum ist. Deutschland ist das reichste, am dichtesten bevölkerte und einflussreichste Land (auch wenn wir etwas Zeit gebraucht haben, es zu verstehen). Nachdem das Zentrum belegt ist, bleiben noch der Norden (hauptsächlich Skandinavien), der Süden (der Mittelmeerraum), der Westen (von Frankreich bis nach Portugal) und der Osten, der sich bis nach Moskau erstreckt. Dann gibt es noch Großbritannien, das schon für sich Geschichte – Pardon, Geografie – macht.

Bis 1989 hat der Kommunismus die europäische Grenze gezogen: der Osten auf der einen Seite, der Westen auf der anderen. Heute – ich wiederhole es – ist es die Art, wie wir uns um den deutschen Kern verteilen. Sollte jemand meinen, ich würde das nur schreiben, um dem Goethe-Institut entgegenzukommen, irrt er sich gewaltig. Im Zentrum zu liegen, kann durchaus problematisch sein. Das wissen Stierkämpfer, Lehrer, Autofahrer auf den Autobahnen und der italienische Christdemokrat Pier Ferdinando Casini (jetzt bin ich mal gespannt, wie unsere hervorragenden Übersetzer das lösen, Anm. d. Verf.!) sehr gut. Besser noch: Da dies eine transkontinentale Reise ist und ihr diesen Blog von Moskau bis nach Lissabon (aber auch in Rom und in London) lest, lasst uns wissen, als was ihr euch seht: als Osteuropäer, Westeuropäer, Nordeuropäer oder Südeuropäer, wie ich es bin?

Doch gehen wir zurück nach Krakau und zum Italienischen Kulturinstitut. Während wir uns auf ein ausgezeichnetes und ordentliches Büffet stürzen – in der Regel hasse ich Büffets, weil sie wirklich die schlimmste Seite eines Menschen erkennen lassen –, nähert sich eine Leserin, Daria D., und vertraut mir Folgendes an: „Ich muss dir ein Buch schenken“. Ich erblasse. Einem Reisenden ein Buch zu schenken ist eine Form von Sadismus: Das Buch wird tagelang schwer im Koffer liegen (es sei denn, der Reisende ist nicht unerbittlich, wie ich es bin, und lässt den Wälzer im Hotelzimmer liegen).

Wie sehr habe ich mich diesmal geirrt! Das Büchlein von Daria D. ist von Anton Tschechow und heißt aus dem Italienischen übersetzt: „Gute Schuhe und ein Notizheft – Wie man einen Reisebericht schreibt”. Ein leichtes, reizendes, perfektes und sogar nützliches Buch. War mir noch nie passiert! Ich weiß, woran es liegt: Auch das ist ein Verdienst von Karol Wojtyla, Turbopapst, Erzbischof und Adoptivkind dieser Stadt, der vor Kurzem seliggesprochen wurde. Johannes Paul II. beherrscht den Marktplatz, den größten mittelalterlichen Platz in ganz Europa. Man sieht ihn auf Plakaten, Postern, Fahnen, Fotos. Er ist überall und lächelt. Das braucht die Welt, vor allem in diesen Tagen. Und wir auch.

(Deutsche Übersetzung: Soledad Ugolinelli)

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