Unser Zug von Krakau nach Prag (Dusche an Bord!) war ein
wahrer Quantensprung. Zuerst der multilinguale Schlafwagenschaffner, der
uns freundlich weckte, Kaffee und Croissants servierte, Stadtpläne
verteilte und uns beim Aussteigen mit den Koffern half, kurz, Anwärter
auf den Titel »Schlafwagenbegleiter des Jahres« ist. Und dann die hellen
und sauberen Schlafabteile selbst: (funktionierende!) Heizung,
Laptop-Steckdose, Bordtelefon und ein kleines Waschbecken mit enorm
ausladendem Wasserhahn. So ausladend, dass man schon sehr aufpassen
musste, nicht daneben zuspritzen.
Obwohl der Zug aus Prag stammte hielt
ich das für Zufall. Bis ich später in einem Restaurant in der Prager
Innenstadt dieselben ausladenden, fast benutzerfeindlichen Wasserhähne
sah. Warum? Beppe, der zwar hervorragende Ideen aber schon alle Städte
dieser Welt gesehen hat und es sich, während ich schwitzend durch Moskau
oder Prag hetze, leisten kann, im klimatisierten Hotelzimmer zu
arbeiten, sein neues Buch vorzustellen und/oder sich mit schönen
Studentinnen zu treffen, war auch diesmal keine Hilfe: er musste anderen
Gästen auseinandersetzen, wen er während welcher Revolution interviewt
hatte. Auch mein Gespräch mit dem Restaurantpersonal trug wenig zur
Klärung bei. Im Gegenteil, man sah mich von da an misstrauisch an
(verständlich: welcher normale Gast fragt schon nach Wasserhahngrößen!).
Was mein Misstrauen gegenüber den ausladenden Wasserhähnen noch
erhöhte, so sehr ich dagegen ankämpfte. Was das Misstrauen des Personals
mir gegenüber ebenfalls erhöhte. Wir gingen, bevor der Teufelskreis
eskalierte. Aber da mich gerade Susanne Höhn, die unsere Reise von Rom
aus dirigiert, aufforderte, auch mal unsere Leser zu fragen, ruhig auch
etwas Überraschendes, so frage ich: Warum? Warum sind Prager Wasserhähne
so ausladend?
Womit wir vielleicht schon bei den Vorurteilen wären:
Vorurteil eins: Tschechen sind wenig serviceorientiert. Der Test: Als
wir um acht Uhr morgens in der Goldenen Stadt ankamen wollte unser Hotel
zuerst nichts von unserer Buchung wissen, dann wollte man uns die
nächsten sechs Stunden nicht in die Zimmer lassen, und das in einem
wenig verbindlichen Ton. Fazit: Vorurteil stimmt; wir nahmen ein anderes
Hotel. (Wo der Rezeptionist allerdings ausnehmend freundlich war...)
Vorurteil zwei: Tschechen halten aber an, wenn Fußgänger Zebrastreifen
benutzen. Test und Fazit: Dass ich diese Zeilen noch schreiben kann
belegt, dass dieses Vorurteil gottlob stimmt. In Polen dagegen traute
ich mich nicht, seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen; dort halten wegen
ein paar Fußgängern nur deutsche Touristen an.
Vorurteil drei: Tschechen sind – aus Sicht der Polen – feige.
Dies in Kürze zu überprüfen ist so unmöglich wie riskant. Die Prager,
mit denen ich sprach sagten mir aber, dass ein Tscheche ein Mensch ist,
der überlegt, bevor er sich mit jemandem anlegt. In Anbetracht etwa der
gewalttätigen Krakauer Hooligans keine schlechte Eigenschaft – ein
unfairer Vergleich?
Okay, ich werde das Klischee anders formulieren: Polen sind von ihrer
Gemütslage so ungefähr die Italiener des Ostens – lebenslustig,
emotional und gleich voll dabei. Tschechen dagegen sind so etwas wie die
Preußen: Eher rational, fleißig, pünktlich, arbeitsam. Übrigens:
Dasselbe denken viele jüngere Tschechen über die Deutschen.
Und damit schließt sich der Klischeekreis. Es gebe ein tschechisches
Sprichwort, sagte Daniel Kaiser, Kommentator bei der Tageszeitung Lidové
noviny, den wir heute zum Mittagessen trafen: wenn jemand ganz schnell
urteile, urteile er »aus dem fahrenden Schnellzug«. Das passt doch
wunderbar auf uns, oder?
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