Die Cathedrale St-Jean vom Ufer der Saône
Dies ist kein Zug, es ist ein sich selbstständig
bewegendes Penthouse. Der Intercity 718 mit Doppelstockwaggon gleitet
sanft von Zürich nach Bern und dann weiter nach Lausanne und Genf, als
wolle er diesen Sonntagmorgen in der Schweiz nicht stören. Zürich hat
uns mit einer ungewöhnlichen Hitze (gefühlte 30 Grad) begrüßt, die den
Ansässigen die Möglichkeit gibt, sich ihren mediterranen Fantasien
hinzugeben. Was für ein herrlicher Anblick gestern Abend: Während einige
sich entkleidet hatten, liefen andere barfuß herum, spielten am Seeufer
Schach oder lauschten falsch-südländischer Musik an den Tischen
falsch-italienischer Restaurants auf einem falsch-marinen Platz.
Schwankend wie Seeleute bei der Ausschiffung (man spürt die letzten acht
Tage im Zug) sind wir im Restaurant „Pulcino“, zu Deutsch „Küken“ (was
sonst?), gelandet, in dem eine russische Kellnerin und ein ägyptischer
Maître ihr Bestes gaben, wie Ligurer und Apulier auszusehen.
Heute Vormittag standen Mark und ich bereits um 9 Uhr am Bahnhof für ein
Interview mit einem Redakteur von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), mit
dem wir über unser horizontales Europa und die Bahnklassen sprechen. Ich
erkläre ihm: „Wenn Österreich und Deutschland sicherlich erste Klasse
fahren und sich Italien etwas unentschlossen im (lauten) Bereich
zwischen der ersten und der zweiten Klasse aufhält, steht die Schweiz
besser als alle anderen dar: sie reist „Premium Class“. Ihre Türsteher
sind jedoch fragwürdige Gestalten. Auf einen wie Herrn Bignasca, zum
Beispiel, Populist aus dem Tessin, wäre ich nicht stolz“.
Doch Bahnhöfe sind gigantische „Abschiedsmaschinen“ sagte einst der
italienische Autor Valerio Magrelli – es wird also Zeit, Abschied zu
nehmen. Während Mark und ich an Gleis 17 unter den missbilligenden
Blicken anderer Reisenden für die blonde Fotografin der NZZ posieren,
stellen wir fest, dass der Zug gleich abfährt und Soledad und Gianni
nicht da sind. Wo stecken sie nur? Sie haben es geschafft, sich das
Leben schwer zu machen, weil sie (wohlgemerkt mit Gepäck!) in die
falsche Straßenbahn gestiegen sind. Atemlos erreichen sie das Gleis und
versuchen, uns zur Eile anzutreiben. Doch dieser jungen Frau verzeiht
man alles. Und Gianni, das wissen mittlerweile alle, braucht Material
für unseren Videoblog.
Nach der Grenze erreichen wir endlich das südländische Europa, das wir
bis Lissabon nicht verlassen werden. Die Ausdrücke, die Farben und die
Geräusche verändern sich, genauso wie die allgemeine Auffassung von
Sauberkeit und Ordnung. In unserem kleinen erhöhten Abteil – wir sind
vom Penthouse zur Einzimmerwohnung übergegangen – vermischen sich
talibanartige Bärte, orientalische Augen, maghrebinische Miniröcke,
Markenkleider und Trainingsanzüge, die von übergewichtigen weißen
Männern voller Stolz getragen werden. Die Sonntagssonne brennt über den
Dächern Frankreichs und die Menschen in den Parks sehen dem Zug nach,
ohne zu wissen, dass sich an Bord unser ungewöhnliches Quartett (plus
Küken) befindet.
Um Punkt 15.21 Uhr kommen wir fahrplanmäßig am Bahnhof Part-Dieu in Lyon
an. Viel Polizei, Reisende, Fahrräder, Schweiß und die weiblichen
Bahnangestellten am Gleis tragen zyklamfarbene Trägerhemden. Ein junges
Paar, das durch die Kamera neugierig wurde, fragt uns, woher wir kommen:
Ich erkläre ihnen, dass einer Deutscher ist, drei Italiener sind und
das Küken staatenlos ist. Lyon ist die drittgrößte Stadt Frankreichs,
die auf Vorschlag von Cicero von einem Statthalter von Julius Caesar
gegründet wurde und heute das Zentrum der mechanischen und
pharmazeutischen Industrie ist. 500 Hektar der Altstadt Lyons wurden von
der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt (das ist die größte Fläche nach
Venedig). „Avant, Avant, Lions le melhor!”“ lautet auf Arpitanisch der
Wahlspruch der Stadt. Was das bedeutet, ist wohl selbstverständlich.
Selbstverständlich für uns Italiener. Nicht für Mark, der seinen
Berühmtheitsmoment zwischen Wien und Zürich, also im Heimspiel, erlebt
hat und nun auf uns angewiesen ist. Einverstanden, wir werden ihm helfen
und ihm sogar verraten, was “Arpitanisch” ist, vorausgesetzt, er gibt
sein Küken auf.
(Deutsche Übersetzung: Soledad Ugolinelli)
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