Züricher Regeln

Die St. Peter-Kirche in Zürich

Die St. Peter-Kirche in Zürich

Zürich empfängt uns mit Sonnenschein bei 27 Grad. Die Taxifahrer am Bahnhof scheinen nicht ganz sicher, ob sie uns mitnehmen sollen: Zu viele Menschen, zu viel Gepäck. Und ob wir denn wenigstens eine weite Strecke führen?

Am Ende deutet ein Langhaariger auf den Fahrer eines Großraumtaxis, das glücklicherweise, denn ich besitze keine Franken, einen Aufkleber hat, demzufolge man mit Kreditkarte zahlen kann. Sofern es mehr als, naja sagen wir 30 Franken sind, präzisiert der Fahrer, darunter lohne es sich für ihn nicht, so seien seine Regeln, und wir wollten doch unser Gepäck nicht zu Fuß zu unserem Hotel transportieren, oder? Beim Hotel steht der Taxameter auf 20 Franken. Wiederum glücklicherweise führt Beppe als weitgereister Reporter eine Devisenschatulle mit sich, in der sich auch Franken finden.
Um typisch schweizerische Reaktionen zu provozieren, worüber sollen wir sonst schreiben, lässt mein Reisefreund gleich danach den zügellosen Italiener von der Leine. Während wir anderen uns brav an der Rezeption des Hotels anstellen um einzuchecken, streift Beppe durch die Bar und leert die Chipsschalen auf den Tischen.
Die Barfrau zieht die Brauen hoch. Sieht mich an. Ich nicke und lächle milde. Sie versteht und schweigt, sich mühsam beherrschend.
Ihre Rache kommt, als ich nicht dabei bin, um Beppe beizuspringen. Denn auch das charmante Hotel Plattenhof hat seine Regeln: Wer in der Bar ein Bier bestellt, bekommt Chips dazu – sofern er drinnen bleibt. Sobald er aber mit dem Bier die Schwelle nach draußen überschreitet und sich an den Tischen in der Sonne niederlässt hat er nur noch das Anrecht auf Erdnüsse. Keine Chips. Warum nicht? Egal!
Beppe kann sich darüber gar nicht beruhigen. Mir fallen andere Dinge mehr auf.
In diesem Blog soll es ja nicht nur um Beppes Ruhm, meine Neurosen und natürlich das Küken gehen, sondern auch um Vorurteile. Und ich weiß noch gut, wie ungemein es meine italienischen Reisebegleiter bei unserer Reise von Berlin nach Palermo überraschte, dass ich, der Deutsche, nicht ganz so präzise, pünktlich, effizient war, wie sie sich es vorgestellt hatten.
Jetzt bin ich es, der staunt. Über die Züricher. Beispiel Frühstück. Obwohl vorsorglich ein Meditationsbademantel und DVDs zum Downcalmen zur Verfügung stehen, ist der aushängende Zimmerpreis in meinen Augen für ein Hotel dieser Kategorie so schwindelerregend, dass ich gar nicht hingucken mag. Trotzdem hat das Management beim Frühstücksbuffet eine weitere raffinierte Einsparmöglichkeit entdeckt: Die Eier werden roh hingestellt. Daneben gibt es einen Wasserkocher, in den jeder Gast seine Eier hängen kann, so lange er will. Als ich kam, hingen zwei Eier im Wasser. Als ich ging, hingen sie immer noch. Dafür ist das Bircher Müsli, als Bückware versteckt im unteren Teil des Buffets, das beste, das ich jemals aß. Das Küken kann das bestätigen.
Beispiel Eisdiele: Gestern abend, in den Gassen der Züricher Altstadt pulsierte das Nachtleben, so südländisch, dass man ganz vergaß, dass die Buchhandlungen hier ganze Schaufenster Titeln über das schweizerisches Privatversicherungsrecht widmen. Wir hatten – ich schwöre, nichts als Zufall! – im Garten eines italienischen Restaurants mit dem unglaublichen Namen »Pulcino« -– »Küken« gegessen und kamen auf dem Rückweg an einer Eisdiele vorbei, in der eine kleine Portion 3,5o Franken kostete, eine mittlere mehr und eine große viel mehr. Ich wollte eine kleine und bekam eine Minimalportion, Gianni wollte eine mittlere und bekam eine große. So seien die Regeln, sagte der Eismann.
Wir hatten heute früh im Bahnhof ein Gespräch mit Urs Bühler von der neuen Zürcher Zeitung, ein so kluger wie sympathischer Kollege mit subtilem Humor, der sich auch nicht aus der Fassung bringen ließ, als Beppe in der Mitte des Interviews davoneilte, um ein dringendes Telefonat entgegenzunehmen. Wir sprachen unter anderem darüber, dass man bei einer solche Europareise versuchen kann, die Mentalität der Menschen anhand scheinbarer Kleinigkeiten zu vergleichen. Ich denke, das gilt auch für Zürich.
Jetzt sitze ich im Zug nach Lyon, draußen rasen felsige Hänge und Weinberge vorbei. Ich öffne, mal wieder viel zu spät, eine der berühmten ultimativen SMSse von Soledad. Doch diese hier ist sehr ungewöhnlich: »Sind auf der Straßenbahn. Sagt uns, von welchem Gleis wir fahren!!!«.
Soledad ist da, sie sitzt da hinten und tippt, aber jetzt verstehe ich, warum sie, seit sie heute in letzter Minute keuchend in den Zug stürzte, mir gegenüber so wortkarg war. Verflixt, ich muss mir angewöhnen, meine SMS früher zu lesen!

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