Lyon-Marseille – Hinter der Kurve liegt plötzlich das Meer

Bahnhof Marseille-Saint-Charles

Bahnhof Marseille-Saint-Charles

Die Frau in Rot schaut uns mit einer Abneigung an, die wir prompt erwidern. Dann wirft sie ihrem Mann einen verschwörerischen Blick zu. Ein kräftiger Typ, mit dichtem, weißem Haar und der Traurigkeit eines Mannes, der um seine vergangene Schönheit weiß, und nicht bemerkt, dass ich sie beobachte. Bei der Abfahrt hat er mürrisch protestiert: „Ich mag keine Kameras“. Als ob Gianni, dem Mark, Sole, ich und auch noch das Küken zur Verfügung stehen, Zeit mit diesen beiden Gestalten verschwenden würde.


Sommersonne in Lyon. TGV nach Nizza, planmäßige Abfahrt 14.37 Uhr, doch wir steigen schon in Marseille aus. Vielleicht ist es die Hitze, doch wir wurden in dieser letzten Stunde unfreundlicher behandelt als während der gesamten Reise von Moskau bis hierher. Am Bahnhof wird der Taxifahrer auf mich wütend, weil ich es gewagt habe, unser Gepäck aus seinem Kofferraum zu entladen, statt mir zu danken. Ein Bahnangestellter fordert uns auf, im Bahnhof nicht zu filmen. Ein junges Paar, das auf unseren reservierten Plätzen sitzt, bewegt sich nicht von der Stelle. Um seine Weigerung zu rechtfertigen, trägt er, der ein wenig Marks Küken ähnelt, den Syllogismus des engstirnigen Reisenden vor: „Jemand hat unsere Plätze belegt und wir haben eure belegt. Beschwert euch bei denen, die unsere Plätze eingenommen haben“.

Mit einem Lächeln und meinen besten Französischkenntnissen versuche ich ihm klar zu machen, dass es so nicht funktioniert. Das sind unsere Plätze, der Zug ist voll, außerdem müssen wir alle zusammen arbeiten. Um nicht allzu förmlich zu sein, füge ich noch hinzu: „Verstehen Sie doch, wir kommen aus Moskau ...“. Und er trocken: „Ist mir doch egal, woher Sie kommen.“ Nun ja, solche Dinge sagt man alten Reisefüchsen, wie wir es sind, nun mal nicht. Ich übergebe den Fall an Soledad, die nur drauf gewartet hat, zum Angriff überzugehen: Nach fünf Minuten sind die Plätze frei. Vor dem Zugschaffner wünsche ich dem sich zurückziehenden Thronräuber noch „Bon voyage“. „Vous aussi“, antwortet er. Aber man sieht, dass er sich nicht freut, sondern eher besorgt ist. In diesem Moment wirft seine Freundin ihm einen Blick zu: „Feigling!“

Man darf diesen Vorfall jedoch nicht überbewerten, um dann seine Schlüsse zu ziehen. Die ersten 24 Stunden in Frankreich haben uns schon viele Annehmlichkeiten und Überraschungen beschert. Les Halles Paul Bocuse, Tempel der Gastronomie (am Montagvormittag geschlossen)! Croix-Rousse, das Stadtviertel der alten Seidenweber (heruntergelassene Rollläden)! Die Brasserie „Le Sud“, unweit der Rhone, die gestern Abend sofort zum besten Restaurant der zweiten Woche auserkoren wurde!

Wir sind lange hinter Soledad gelaufen, die zu den acht bereits genannten Rollen noch drei weitere übernommen hat: GPS-Navigator, Sherpa und Fotografin. Ein Training der unteren Glieder war dringend notwendig (die oberen Glieder sind dank des Kofferwerfens in den Zug, demnächst auch eine olympische Sportart, ausreichend trainiert). Um die Mittagszeit kommt auf einem Spielplatz auch das Küken ins Spiel. Im Hinblick auf unser Endziel Lissabon haben wir Mark ein spektakuläres Finale vorgeschlagen: Zunächst lassen wir das Küken (selbstverständlich mit Rettungsring) im Ozean schwimmen, dann feuern wir es in die Luft und schauen zu, wie es mit dem Fallschirm sanft herunterfliegt. „Non il mio pulcino“ (zu Deutsch „Nicht mit meinem Küken“) hat Herr Spörrle streng geantwortet.

Der TGV rast, der Nachmittag rückt vor, das unfreundliche Paar hat die Plätze gewechselt (vielleicht, um uns besser zu beobachten?). Während wir drei schreiben, schneidet Gianni unseren neuen Videoblog. Heute werdet ihr eine Studie über die Wichtigkeit des Jäckchens für die Ästhetik italienischer Touristen und vielleicht eine Bemerkung zur „Dromomanie“ sehen – der Zwang, sich ständig zu bewegen, zu rennen und weiterzufahren (ein Psychiater, der unsere Blogs liest, und sich wohl Sorgen um uns macht, hat uns drauf aufmerksam gemacht). Dromomanie! Sie ist der Grund dafür, dass wir von Moskau bis nach Südfrankreich gereist sind. Und von hier aus hoffen wir, hinter einer Kurve, plötzlich das Meer zu sehen.

Am Bahnhof Marseille-Saint-Charles gibt es natürlich kein Meer. Doch der Wind trägt seinen Duft und das ist doch schon mal etwas.

(Deutsche Übersetzung: Soledad Ugolinelli)

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