Nicht Moskau, das teilweise Ostberlin ähnelt, nicht das
in seiner Sinnlichkeit selbst für Italiener attraktive Krakau, nein,
Lyon ist die bisher größte Überraschung der Reise. Ich glaubte immer,
Lyon zu kennen, diese Ansammlung häßlicher Industriebauten, die ich auf
Frankreichfahrten im Stau auf der Autobahn Richtung Süden sah. Ich
glaubte immer, Paul Bocuse, der mittlerweile über 80-jährige Küchengott
und seine Epigonen seien von der französischen Zentralregierung wie auch
immer genötigt worden, sich hier anzusiedeln – um den unglücklichen
Einwohnern wenigstens eine Freude zu bereiten.
Aber das war ein anderes Lyon. Nun stehe ich in einem prächtigen
Hotelzimmer, Steinfußboden, Balkendecke, an den Wänden Stofftapete. Vor
dem Fenster eine kleine Gasse. Blick auf Renaissancehäuser, einen
kleinen baumbestandenen Platz, auf dem Kinder spielen. Unglaublich: Im
Hotel »La Tour Rose« mitten in Lyons Altstadt, alles denkmalgeschützt,
UNESCO-Weltkulturerbe, fühlt man sich fast wie auf dem Dorf.
Und in Lyon werden sich wie im Zeitraffer noch weitere Klischees verabschieden oder bestätigen.
Zuerst aber versuche ich mal wieder mit Radio Bremen zu telefonieren. Im
Grunde eine super Sache. Die Kollegen rufen mich auf dem Handy an, ich
gebe ihnen die Hotelnummer durch, sie rufen auf dem Festnetz an,
schalten mich auf Sendung und ich darf ein paar Minuten lang erzählen,
was Beppe und ich auf dieser Reise so treiben und wie wir das süße Küken
gegen Beppes häßlichen Gartenzwerg ausspielen und umgekehrt. In
Wahrheit aber kamen schon zwei dieser Telefonate fast nicht zustande,
weil die Telefonleitungen im Ausland sich nicht mit den Leitungen in
Bremen vertragen. Beide Male saß ich mit angehaltenem Atem in meinem
Hotelzimmer zwischen Handy und Festnetztelefon, die sich beide kein
bisschen mucksten, während an der Rezeption gleichzeitig eine
Hotelangestellte so tat, als würde sie Radio Bremen in mein Zimmer
durchstellen. Um dann zu behaupten, ich sei nicht da. Woraufhin die
Bremer Kollegen aufgeregt Soledad anriefen. Woraufhin Soledad aufgeregt
mich anrief. Woraufhin ich aufgeregt rief, das könne nicht sein, ich sei
die ganze Zeit dagewesen und das das Telefon habe definitiv nicht
geklingelt. Beim ersten Mal glaubt man einem das noch. Beim zweiten Mal
ist es schon ein seltsamer Zufall. Das dritte Mal war heute.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die bekanntlich humorbegabten
Kollegen von Radio Bremen die ganze Aufregung selber inszenieren,
heimlich aufzeichnen und am Ende eine kleine Sitcom daraus machen. Aber
ich bin sicher, Soledad kann sich das nicht vorstellen. Als ich, das
Telefonat hatte über Umwege doch noch stattgefunden, erschöpft und zu
spät zum Frühstück kam und meine Unschuld beteuerte, hob sie nur noch
ihre Augenbrauen, und augenblicklich erstarb das Gespräch an unserem
Tisch. Ich will ihr dafür keinen Vorwurf machen, sie muss genug unter
uns leiden.
Zurück zu den Klischees. Nehmen wir die französische Küche. Im »Le Sud«
einem der vier Bistros, in denen man in Lyon fast so kocht wie in Paul
Bocuses Original-Restaurant, nur deutlich günstiger, bestellte ich Osso
Buco. Meine italienischen Reisebegleiter konnten sich darüber gar nicht
beruhigen: Ein Deutscher, der in Lyon ein italienisches Gericht isst
statt etwa Kalbsnieren, Kuhfüße oder panierter Pansen! Aber nur so
konnte ich vergleichen. Und testiere: Die Bocuse-Küche, sie ist nach wie
vor hervorragend.
Ganz anders steht es um ein anderes Klischee. Ulrich Sacker, Leiter des
Goethe-Instituts in Lyon und Verfasser fast des einzigen Reiseführers,
den es über diese Stadt gibt, erzählte uns, dass viele der
alteingesessenen Lyoner über mindestens zwei Autos verfügten: Einen
verbeulten Peugeot für die Stadt, man weiß ja, wie die Franzosen fahren,
rumsrums, und einen Ferrari oder Maserati für Ausflüge ins Umland. Doch
der Taxifahrer, der uns zum Bahnhof brachte, gehörte einer neuen
Generation autofahrender Franzosen an: Er fuhr E-Klasse, und als wir
ausstiegen, schrie er, wir sollten mit der Hintertür aufpassen, die
Säule!, und wir sollten ja nicht das Gepäck selber aus dem Kofferraum
nehmen, sonst verkratze die Ladekante im Kofferraum, und das sei sehr
teuer! Kurz: Dieser Mann wird entweder dem französischen Autoverkehr
revolutionieren oder nach Deutschland auswandern.
Im TGV fliegen wir nach Marseille, die Stadt, die um den zweiten Platz
nach Paris konkurriert. Ihr Hafen ist weiß vor lauter Yachten, und
dahinter, endlich, sehen wir das Meer.
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