Verbundenheit der Generationen: Die Enkelin eines Veteranen umarmt ihren Großvater und zupft an seinem „Held der Sowjetunion“-Orden, der einst höchsten Auszeichnung des Landes. Foto: AFP/Eastnews
Die Russen „pilgern“ zu den zahlreichen Kriegsdenkmälern. Verwaltungsgebäude, Wohnhäuser und Geschäfte sind mit Fahnen und Plakaten geschmückt, die Helden und Waffen des Krieges darstellen. Im Fernsehen laufen Interviews mit Veteranen, Dokumentationen und Spielfilme.
Fast jede Familie verlor im Krieg irgendeinen Angehörigen. Am 9. Mai steht dennoch nicht das Gedenken an die Toten im Mittelpunkt. Zwar legt man Blumen und Kränze nieder, stellt Ehrenwachen an Ewigen Flammen auf, den meisten Raum nehmen aber die im ganzen Land stattfindenden Militärparaden ein. Sie sollen demonstrieren, dass die Rote Armee die Hauptlast des Krieges trug. Bei der Bevölkerung sind die Paraden beliebt, die Sympathie für die Soldaten ist auch ohne Propaganda ehrlich gemeint.
Der 9. Mai ist der einzige wirklich gesamtrussische Feiertag: Über alle Nationalitäten- und Klassengrenzen hinweg gibt es an diesem Tag keine Meinungsverschiedenheiten. Nur die Erinnerung an den Sieg und die Opfer zählt. Selbst wer den Tag nutzt, um erstmals nach dem Winter auf seine Datsche zu fahren, erhebt am Abend das Glas ohne anzustoßen – so gedenkt man der Verstorbenen.
Auf die Paraden folgen Volksfeste und Konzerte, die sich zunehmender Popularität erfreuen. Denn je mehr die Veteranen als Erlebnisgeneration verschwinden, desto weniger können sie das staatlich gelenkte Gedenken legitimieren. Marschierten die Kriegsteilnehmer im Jahr 2000 noch über den Roten Platz, fuhren sie 2005 bereits in Lastwagen an den Tribünen vorbei. 2010 saßen sie als Zuschauer auf den Rängen, ihre Rolle übernahmen Soldaten in historischen Uniformen. Ob es auf diese Weise gelingen wird, die Kriegserinnerung an die Urenkel-Generation zu übertragen, ist fraglich.
Denn die Jugend kann mit der traditionellen Symbolik immer weniger anfangen. Deshalb tanzt sie am Abend des 9. Mai zur Rockmusik, die wenigen noch lebenden Veteranen bleiben im Gorki-Park unter sich. Zugleich lässt das seit mehr als 65 Jahren bestehende Bild des Sieges langsam differenzierende Wahrnehmungen zu. Als 2010 erstmals Soldaten aus den USA, England, Frankreich und Polen an der Parade teilnahmen, zeigte das der russischen Öffentlichkeit, dass der Sieg, anders als jahrzehntelang propagiert, nur gemeinsam erreicht werden konnte. Dass zugleich Präsident Medwedjew und Premier Putin die deutsche Kanzlerin in ihre Mitte nahmen, symbolisierte vor allem eines: Selbst am Tag des Sieges wird Deutschland nicht mehr als Feind und Aggressor wahrgenommen, sondern als zuverlässiger Partner und Freund.
Dr. Matthias Uhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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