Hat man geschlagene 4500 Kilometer in Zügen zurückgelegt
scheint es nur ganz natürlich zu sein, dass man von Wasser wie magisch
angezogen wird. Gestern abend saßen wir im Panoramarestaurant des
Sofitel Vieux Port und aßen sehr gut, während unter uns die Lichter von
Marseille leuchteten. Seit etlichen Jahren tun die Marseilleiser (ich
nenne sie mit purer Absicht so) erfolgreich etwas gegen die einstmals
ausufernde Kriminalität und für die Verschönerung des Stadtbildes, und
man muss sagen, sie sind gründlich: Selbst die Baukräne sind hier nachts
blau illuminiert. Passend dazu ist auch das Hotel ein Traum, es verfügt
über Frauenspeisekarten ohne Preise, eine Lobby, die eher eine Lounge
ist, viel freundliches Personal und zum Frühstück steht der Honig in der
Wabe auf dem Buffettisch. Einer der Restaurantkellner ist zwar
Franzose, aber im Schwarzwald aufgewachsen und erzählt mir, dass es für
ihn auf der Welt nur zwei lebenswerte Orte gebe: Marseille oder eben den
Schwarzwald. Während ich noch über diesen denkwürdigen Gegensatz
nachdenke fällt mir etwas Sensationelles auf: Beppe frühstückt! Und
nicht nur das: Er isst Müsli. Wie eine solche Reise einen Menschen
verändern kann!
Beppe tut, als sei das keine Sensation. Das Müsli reguliere alles, sagt
er nur. Ich frage nicht weiter. Ich für meinen Teil esse Müsli, weil es
schmeckt und auf Zugreisen, auf denen man fast nur herumsitzt, nicht zu
dick macht. (Ich esse daneben noch Würstchen und Schokoladencroissants
aber die machen bekanntermaßen ja auch nicht dick.)
Nach dem Frühstück laufen wir um den Yachthafen, an dem Fischerfrauen
den frischen Fang ihrer Männer verkaufen, lassen uns in einer kleinen
Besucherbimmelbahn von den Marseilleisern bestaunen und benehmen uns
auch sonst fast wie Touristen, alles, um nicht vom Wasser wegzumüssen.
Wir versuchen sogar ein Boot zu finden, das theoretisch in der Lage
wäre, uns nach Barcelona zu bringen. Wir finden eins, eine Luyxusyacht,
vier Stockwerke hoch, Kabinen für 12 Passagiere, sieben Mann Crew, aber
die Charter von 12 000 Euro am Tag übersteigt unser Budget.
Seufzend besteigen wir den Zug von Marseille nach Montpellier. Und die
französische Bahn gibt sich Mühe, es uns leichter zu machen. Die Lampen
in den Wagen haben die Form eines langgezogenen stilisierten Herzens und
verbreiteten gelbes, gemütliches Licht. Die Frauentoilette ist zwar
zugesperrt, aber die stilisierten Efeublätter an den Wänden der
Herrentoilette passen allerliebst zu den grünen Wiesen und dunkelgrünen
Pappeln Südfrankreichs. Die Malerei diene dem Aggressionsabbau, sagte
eine Französin, mit der ich mir die Klinke in die Hand gab (Beppe würde
nun ihre Haarfarbe erwähnen, ich als in Frauenfragen hochkorrekter
Deutscher unterlasse das, dass ihre Haare blond waren tut wirklich
nichts zur Sache). Ein wahrlich kluger Zug der französischen Bahn, in
deren Wagen sich manche ältere Männer vor allem Fremden gegenüber als
wahre Kotzbrocken gerieren.
In Montpellier, vielen Deutschen bekannt als Stadt der Klassenfahrten,
haben wir beim Umsteigen eine Stunde Aufenthalt. Wir rocken die
Brasserie neben dem Palmengarten gegenüber dem Bahnhof: Bevor wir
unverhofft unsere Laptops auspacken um zu arbeiten, sitzen dort ein paar
Biertrinker, die Frauen hinterherpfeifen. Als wir wieder gehen, sitzen
da ein paar Anzugträger mit Smartphone und immerhin schon ein Mann mit
Laptop. Und wer weiß was noch passiert wäre, wären wir länger geblieben.
Weiter geht es im TGV, an der Mittelmeerküste entlang. Und wie immer ist
es ein kleines Wunder, Gianni arbeiten zu sehen. Der Mann wurde
vermutlich von »Q« ausgerüstet, als es den bei James Bond noch gab, denn
er führt für sämtliche denkbaren Situationen Kameras in diversen Größen
mit sich, mit denen er mit sicherem Instinkt genau dann filmt, wenn es
etwas zu filmen gibt. Anschließend, egal wo, ob im Hotelzimmer, einer
Hotellobby oder im fahrenden Zug, fabriziert er daraus wahnsinnig
schnell Kunstwerke, die nur Banausen Filme nennen würden.
Nach Figueres, wir haben die spanische Grenze überschritten, liegt
zwischen Barcelona und uns nur noch eine Herausforderung: Ein spanischer
Regionalzug zweiter Klasse.
PS1. Soledad hat heute keine ultimative SMS geschickt, so dass ich das Taxi pünktlich erreichte. Was ist nur los?
PS 2. Über das Küken spreche ich hier absichtlich nicht.
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