Deutsche und Russen puzzeln an der Versöhnung

Natascha legt das Puzzle ihres Lebens - für die Versöhnung. Foto: Gulliver Theis

Natascha legt das Puzzle ihres Lebens - für die Versöhnung. Foto: Gulliver Theis

Die Mariä-Entschlafenskirche in Nowgorod schmückten einst 195 Fresken. Im Krieg zerstört, werden sie nun in mühevoller Kleinstarbeit von russischen und deutschen Experten restauriert.

Das hier könnte passen. Oben, unten, rechts. Nein. Natascha legt das Teil zurück auf das weiße Papier in der Holzkiste. Dutzende solcher Kisten stehen auf ihrem Tisch, Tausende Puzzleteile, manche so groß wie Geldmünzen, andere nur wenige Millimeter klein. Welches passt? In der mit Neonröhren beleuchteten Werkstatt im Zentrum von Nowgorod herrscht absolute Stille. Kein Radio plärrt im Hintergrund, niemand tönt am Handy, auch die zehn anderen Frauen arbeiten mit höchster Konzentration.

Nataschas Augen suchen weiter, zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie das kleine Stückchen Stuck, mit einem blauen Pinselstrich 
bemalt vor 650 Jahren, vor 60 Jahren herausgerissen aus einem Bildnis Melchisedeks, König von 
Jerusalem, als deutsche Granaten auf Nowgorod und die umliegenden Dörfer hagelten und die älteste russische Stadt in eine Geröllwüste verwandelten. Aus den 195 Fresken der Mariä-Entschlafenskirche wurden 1,75 Millionen Einzelteile, zehn passende findet 
Natascha pro Tag, „wenn es gut läuft “. Dann erhebt sie sich und geht zum Nachbartisch. Mit einem kurzborstigen Pinsel reinigt sie die Schnittstellen, trägt mit einem anderen Spezialklebstoff auf und drückt die Teile zusammen. Auf dem großen Tisch am Ende des Raumes liegt König Melchisedek und wartet auf seine Wiederherstellung.Und darauf, dass er in die Mariä-Entschlafenskirche auf dem 
Wolotower Feld zurückkehren kann, etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt Nowgorod gelegen, am Ufer des Flusses Maly Wolchowez.

Tamara Anissimowa, 61 Jahre alt, öffnet die Kirchentür, drin ist es überraschend hell, obwohl das Sonnenlicht nur durch kleine Schlitze in den Raum dringt. Die Kirche ist das Lebenswerk der Nowgoroder Restauratorin Anissimowa.Schon 859 gegründet, entwickelte sich Nowgorod ab dem 12. Jahrhundert zu einer der reichsten Städte Russlands: Die Kaufleute handelten mit der Hanse, über das Meer kamen Gewürze, Tuch und sogar Pferde, auf dem Weg zurück nach Westeuropa luden die Schiffe Pelze, Honig und Holz. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs erblühten auch Malerei und Architektur: Kaufleute holten Baumeister und Maler aus Byzanz und vom Berg Athos und ließen Kirchen und Paläste errichten. Nowgorod, Weltkulturerbe seit 1992, ist Geburtsort der altrussischen Malerei - und die Mariä-Entschlafenskirche aus dem Jahr 1352 ist eines ihrer prächtigsten Beispiele.Seit Ende des 19. Jahrhunderts pilgerten Forscher auf der Suche nach den Wurzeln der russischen Kultur nach Nowgorod und dokumentierten jede einzelne der 195 Fresken. In den 30er-Jahren wurden diese sogar restauriert – im Frühjahr 1941 waren die Arbeiten beendet. Was folgt, ist bittere Geschichte.

Bis auf die Grundmauern von Granaten zerstört

Im Juni überfällt Deutschland die Sowjetunion, schon im August 
erreicht die Wehrmacht Nowgorod und macht im Kampf gegen die Rote Armee die Stadt dem Erdboden gleich. Die Mariä-Entschlafenskirche, in der sich die Sowjets 
verschanzt haben, fällt im Granatenhagel bis auf die Grundmauern in sich zusammen.Notdürftig mit einem Schutzdach bedeckt, wurde sie erst 1993 aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. „Wir wussten immer, was für ein Schatz Wolotowo ist “, sagt Anissimowa. Die engagierte Restauratorin beginnt zusammen mit Kollegen auf eigene Faust, Dutzende 
Kubikmeter Schutt abzutragen und zu filtern: hierhin die Granatsplitter, dorthin die Einzelteile der Fresken. Zwar verfügten sie über Fotografien und Zeichnungen der Wandgemälde, aber ihnen war klar, dass bei ihrer Arbeit große Lücken bleiben würden: Viele Teile waren nach der Zerstörung einfach zu Staub zerfallen.

Die Kunstexperten hätten die Überreste wohl, wie sonst üblich, auf 
Titanplatten montiert und ins Museum geschafft - wären nicht ihre deutschen Kollegen dazugekommen. 2001 erklärte sich der Verein zur internationalen Verständigung bereit, die Restaurierung in Angriff zu nehmen. Der Verein, der sich vor allem durch Spenden der Wintershall GmbH finanziert, teilt sich seit 2009 die Kosten für die Restaurierung mit der russischen Gazprom Export. Er brachte deutsche Experten in das Projekt, die Unmögliches in Aussicht stellten: die Fresken wieder an den Kirchwänden anzubringen . „Es war schwer, die russischen Fachleute davon zu überzeugen “, sagt Anissimowa. „In Russland wurde das zum ersten Mal gewagt.“

Das Unmögliche wagen

2004 wurde die Kirche wieder aufgebaut, 2007 kamen die deutschen Spezialisten nach Nowgorod, um eine erste Freske an ihren alten Platz im Innern zurückzubringen. Gemeinsam mit den Russen passten sie die bestehende Technologie auf die Bedingungen in Nowgorod an. Das Experiment gelang, die Technologie erlaubt es sogar, die Fresken in Bögen und im Kuppelgewölbe anzubringen. In der internationalen Fachwelt sorgte das Meisterstück von Wolotowo für einiges Aufsehen.

Die Zerstörung der Fresken wird trotz der minutiösen Puzzlearbeit von Natascha und den anderen immer zu sehen sein. Doch es käme Anissimowa gar nicht in den Sinn, die fehlenden Stellen einfach „nachzumalen“. Denn die Kirche in Wolotowo soll, ähnlich wie der „hohle Zahn“, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, ein Mahnmal werden. Für den Krieg, für Zerstörungen, die zu übermalen bedeuten würde, sie zu verschweigen.Fährt Tamara Anissimowa heute mit ihrer Hand die Konturen einer Freske an der Kirchenwand entlang, weiß sie, dass sich das Wagnis gelohnt hat. „Wandmalerei“, sagt sie, „kann nur dort wirken, wo sie ursprünglich 
gemalt wurde“.

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