Die Wahrheit hinter den Paraden

Preisträger des Geschichtswettbewerbes. Foto: Memorial

Preisträger des Geschichtswettbewerbes. Foto: Memorial

Am 9. Mai gedenkt Russland mit Panzern und Raketen auf dem Roten Platz triumphal seines Sieges im Zweiten Weltkrieg. Zu den Verlierern des Krieges gehörten allerdings nicht nur die Deutschen, sondern auch Millionen eigener Sowjetbürger. Russische Schüler befragten Zeitzeugen.

Am 9. Mai gedenkt Russland mit Panzern und Raketen auf dem Roten Platz triumphal seines Sieges im Zweiten Weltkrieg. Zu den Verlierern des Krieges gehörten allerdings nicht nur die Deutschen, sondern auch Millionen eigener Sowjetbürger. Russische Schüler befragten Zeitzeugen.

Die Gesellschaft Memorial hatte zum zwölften Mal den Geschichtswettbewerb für Schüler „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“ ausgeschrieben. Am 4. Mai präsentierten die Kinder und jungen Erwachsenen in Moskau die besten Arbeiten.

Verlierer des Krieges waren Polen, Deutsche, Tataren und andere Nationen die pauschal als unzuverlässig eingestuft und deportiert wurden. Zwangsarbeiter, die sich nach ihrer Knechtschaft in deutschen Diensten in der Sowjetunion im Lager wiederfanden. Menschen, die wegen kritischer Äußerungen oder Verrat eingesperrt oder erschossen wurden. Mit den Verlierern im Siegerland Sowjetunion haben sich knapp 2.000 Schüler aus allen Regionen Russlands beschäftigt.

Bei der Präsentation wurde deutlich, dass das Thema kein abstraktes Kapitel aus vergilbten Aktenbeständen ist. Viele der Schüler recherchierten die eigene Familiengeschichte oder befragten Menschen aus dem Bekanntenkreis. So auch Anastasija Kuljagina, die im Gebiet Rostow die achte Klasse besucht und ihre Arbeit über deportierte Polen in Kasachstan unter dem Titel „Die Wahrheit Stalins“ vorstellte. Ihr heute 73-jähriger Großvater Sigismund Teminskij wurde in Kasachstan geboren, weil seine polnischen Eltern dorthin deportiert wurden. „Großvater hat nie darüber gesprochen. Erst als er krank wurde, sollten wir die Wahrheit erfahren“, berichtet Kuljagina. Nach Rostow kam er mit der Armee. In die Höhere Parteischule nahmen sie ihn wegen seiner Herkunft nicht auf, „er war sein ganzes Leben gebrandmarkt“. So arbeitete der Großvater als Kolchosbauer.

Als Kuljagina von dem Wettbewerb erfuhr, hörte sich ihr Vater, eine Verwaltungsangestellter, um und fand im Bezirk jemanden, der ein ähnliches Schicksal hatte wie der Großvater: Frau Belizkaja. Auch sie war wegen ihrer polnischen Herkunft nach Kasachstan deportiert worden. Die alte Frau erzählte dann der Schülerin, wie sich damals alles ereignete, wie die Rote Armee in ihr Dorf kam und die Polen in Eisenbahnwagen verfrachtete. „Sie fuhren ins Unbekannte, mit Kühen im Waggon. Das war gut, weil sie gemolken werden konnten. Trotzdem starben viele schon während der Fahrt“, berichtet die Schülerin. Auf einer Wandtafel zeichnete Kuljagina den Kreis des Leidens auf: Waggons, Arbeitslager und Zwangsarbeit. „Sei gegrüßt, Schrecken“ schrieb sie darunter. In ihrer Arbeit untersuchte sie das Leben der Polen in der Verbannung: „Sie hielten stark an ihren religiösen Bräuchen fest.“ 

Das schlanke Mädchen im rosa T-Shirt und mit dem brünetten Zopf möchte Ärztin werden und sich nicht professionell mit Geschichte beschäftigen, wie manche der 43 Sieger des Wettbewerbs. Aber für sie ist klar: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Schrecken der Vergangenheit vergessen werden.“ Ein anderes Mädchen aus ihrer Gruppe, Ksenija, zeichnete das Schicksal einer russlanddeutschen Familie nach – ihrer eigenen Verwandtschaft. „Jetzt setzt sie sich dafür ein, dass die Familie Miller rehabilitiert wird“, sagt Sofija Kislizkaja von Memorial aus Ekaterinburg, die eine Arbeitsgruppe in Moskau betreut hat. „Die Kinder wollten die Wahrheit wieder herstellen.“

Um die Wahrheit ging es auch bei anderen Themen des Wettbewerbs. Der Schwerpunkt lag zwar beim zweiten Weltkrieg, aber auch andere „weiße Stellen“ der Geschichte wurden untersucht: zum Beispiel der Unfall beim Atomreaktor Tschernobyl 1986. Die Elft-Klässler Darja Glawina und Sergej Jurow aus dem Gebiet Rostow werteten den Briefwechsel eines Aufräumarbeiters an seine Frau aus. Wieder war der so genannte Liquidator kein Unbekannter, sondern der Großvater Jurows, Aleksandr Gaponenko. „Der Unterschied zwischen den Briefen und dem, was der Staat zu dem Unglück sagt, war schockierend“, sagt Jurow. Während die offizielle Propaganda die Folgen des Unfalls verharmloste, „starben die Aufräumarbeiter wie die Fliegen“.  Gaponenko musste verseuchte Erde aus dem Gebiet herausfahren, klagt in den Briefen über Kopfschmerzen und schweren Atem. 2004 starb der Mann an Herzversagen. Auf dem Plakat der Schüler ist der Auszug aus dem Bericht der ärztlichen Untersuchungskommission zu lesen: „Der Tod ist verbunden mit dem Einfluss radioaktiver Faktoren nach dem Unglück in Tschernobyl.“

Bürgerrechtlerin Ljudmila Aleksejewa. Foto: Memorial


Ziel der Arbeiten war es weniger, sensationelle Entdeckungen zu machen, sondern die Wahrheit über die Geschichte des eigenen Ortes oder der eigenen Familie zu erfahren. Heute werde die Stalinzeit zunehmend verklärt, sagte der Vorsitzende der Jury und Mitglied der Russischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Sigurd Schmidt, bei der Feier: „Im Fernsehen heißt es: Stalin hat das Land groß gemacht. Putin nennt Stalin einen effektiven Manager.“ Auch in der Schule werde die Geschichte oft nicht objektiv unterrichtet. „Man muss die Ereignisse kennen, die in den Lehrbüchern verschwiegen werden.“ Auch der Gesandte der Botschaft Deutschlands in Russland, Rudolf Adam, kritisierte die Tendenz, die Ereignisse der Stalinzeit zu verschönern. Deutschland hatte den Geschichtswettbewerb maßgeblich mitfinanziert. Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Heinrich Böll-Stiftung waren unter den Sponsoren. Die Bürgerrechtlerin Ljudmila Aleksejewa rief die Anwesenden dazu auf, am 9. Mai stolz auf die eigenen Vorfahren zu sein: „Gewonnen hat das Volk, nicht der effektive Manager.“

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