Fjodor Lukjanow
Wie übersteht man etwas Derartiges? Man kann inneren Frieden und Demut im Gebet suchen. Oder man tut das genaue Gegenteil, indem man sich voll und ganz einer Sache verschreibt. Jener Sache beispielsweise, die der so tragisch verunglückte Bruder als seine Lebensaufgabe ansah. Der polnische Präsident Lech Kaczynski war am Tage seines Flugzeugabsturzes beileibe nicht auf dem Weg nach Katyn, um eine Aussöhnung zwischen Polen und Russland herbeizuführen. Diese schwierige Materie hatten vielmehr drei Tage zuvor die pragmatischeren Premiers beider Länder, Wladimir Putin und Donald Tusk, anzugehen versucht. Lech Kaczynski hatte dagegen die Absicht, allen erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass es für das Grauen von Katyn keine Verjährungsfrist gibt, dass die Wunde weiterbluten muss, dass man nicht vergessen darf, wer die Schuld trägt. Und wer sich hier schuldig gemacht hatte, das stand für ihn außer Zweifel: auf der einen Seite die zynischen Mörder des Stalinregimes und auf der anderen – die prinzipienlosen Konformisten. Mithin diejenigen, als deren moderne Verkörperung der Präsident die beiden Premiers ansah.
Jaroslaw Kaczynski trat nicht von der politischen Bühne ab, obwohl die Präsidentschaftswahlen 2010 für ihn in eine Niederlage mündeten. Wahrscheinlich hätte auch der eigentliche Kandidat – sein Zwillingsbruder Lech – diese Wahl verloren. Doch Jaroslaw Kaczynski machte aus der gemeinsamen Partei Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit) einen Gedenkverein für Lech. „Die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ über den Tod des polnischen Präsidenten einzufordern, wurde zum Leitmotiv ihres Wirkens, ja zur beinahe einzigen programmatischen Zielsetzung. Jaroslaw Kaczynski und – von ihm aufgeklärt – auch manch anderer Parteimitstreiter und Tatsachenfanatiker, kennen die Wahrheit selbstredend schon: Lech ist nicht verunglückt, sondern in Russland ermordet worden, und die käuflichen Liberalen der Bürgerplattform Platforma Obywatelska decken seine Mörder. Mit diesem Schlachtruf ziehen die Konservativen in die Parlamentswahlen im Herbst. An überbordenden Emotionen dürfte es im Wahlkampf also kaum mangeln, umso mehr, als die polnische Gesellschaft, zumindest aber ihr medial präsenter Teil, dafür durchaus empfänglich ist.
Die Beziehungen zwischen Russland und Polen bilden ein fest geschürztes Knäuel aus historischen Schuldzuweisungen, psychologischen Traumata und einer fast überspannten wechselseitigen kulturellen Anziehung. Ein Knäuel, das scheinbar niemand entwirren kann. Besonders, wenn die Tragödie von Katyn wie ein Menetekel eine zweite Katastrophe folgen lässt.
Russland und Polen eint eine abstruse Fixierung auf die Vergangenheit, auch bei uns gibt es eine Vielzahl von Kaczynskis. Aufgrund der Spezifik des russischen politischen Systems haben sie sich einfach noch nicht zu einer Partei zusammengeschlossen, wobei es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis das „Versäumnis“ nachgeholt wird. Schon jetzt setzen sie alles daran, dass die Nation auf gar keinen Fall das Gefühl ihrer historischen Versehrtheit verliert – ein Gefühl, das diese Kräfte aus unerfindlichen Gründen „Nationalstolz“ nennen. Für die Brüder Kaczynski als eingefleischte Konservative ist die Vergangenheit zugleich die Zukunft, folglich muss man an den alten Wunden rühren, wenn es vorwärtsgehen soll. Ihre Gesinnungsgenossen in Russland ticken ähnlich, anders lässt sich das unaufhörliche Tränenvergießen um die UdSSR nicht erklären. Eine UdSSR, die es kein zweites Mal geben wird, was selbst diejenigen wissen, die den Verlust am lautesten beklagen. Die Diagnose für die russisch-polnischen Beziehungen ist seit Langem gestellt. Russland und Polen werden entweder gemeinsam gesunden oder sich auch in Zukunft endlos gegenseitig mit dem Bazillus des historischen Masochismus infizieren.
Fjodor
Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Russia in Global Affairs.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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